Philosophie ist fast ausschließlich Männersache. In ihrer zweieinhalbtausend Jahre dauernden Geschichte spielen Frauen nur eine Nebenrolle. Die britische Philosophin Mary Midgley hat das in einem Essay für die BBC einmal so formuliert: „Praktisch alle großen europäischen Philosophen waren Junggesellen.“ Gesendet wurde dieser Satz nie, die Herren von der BBC fanden ihn „trivial“ und „irrelevant“. Midgley war allerdings der Ansicht, die Geschichte der Philosophie hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn darin Menschen vorgekommen wären, die Kinder bekommen und großziehen und die ein soziales, körperliches Leben führen, statt eine Existenz am Schreibtisch.
Wie könnte eine solche Philosophie aussehen? Davon handelt Claire Mac Cumhaill und Rachel Wiseman wirklich wunderbares Buch „The Quartet“. Ende 2013 lernten Mac Cumhaill und Wiseman besagte Mary Midgley kennen. Sie war damals 94 Jahre alt und lebte in einem Altenheim in Newcastle. Midgley erzählte ihnen die Geschichte des Quartetts und lieferte damit einen „lebendigen Hintergrund für die Philosophie, die sie uns vermitteln wollte“ (S. 15). Diese Philosophie handelt vom Leben in Zeiten des Chaos. Damals war es der Zweite Weltkrieg. Heute sind es die Pandemie und der Ukraine Krieg. Es ist also genau die richtige Zeit, sich an das Quartett zu erinnern.
Dieses Quartett bestand aus:
Ihre Geschichte spielt in Oxford und es gibt naturgemäß noch zahlreiche andere Philosophen, die in dem Buch eine Rolle spielen. Wollte man sie alle aufzählen, hätte man einen großen Teil des wichtigen Personals der Philosophie des 20. Jahrhunderts zusammen. Die beiden Männer mit dem größten Einfluss auf das Quartett sind allerdings Ludwig Wittgenstein und A.J. Ayer.
Das Buch setzt ein mit einer paradigmatischen Szene aus dem Jahr 1956. In Oxford versammeln sich die Dozenten, um darüber zu beraten, ob dem ehemalige US-Präsidenten Harry S. Truman die Ehrendoktorwürde der Universität Oxford verliehen werden soll. Normalerweise wurden solche Anträge einfach durchgewunken, aber dieses Mal gab es schon im Vorfeld Gerüchte. „Die Frauen“, hieß es, wollten Ärger machen. Tatsächlich meldet sich Elisabeth Anscombe zu Wort. Immerhin trägt sie einen Rock, registriert man zufrieden, als sie zum Rednerpult geht. Normalerweise trägt sie Hosen, und die sind laut Universitätsstatut für Frauen eigentlich verboten.
Elisabeth Anscombe spricht sich gegen die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Truman aus, weil der den Abwurf der Atombombe aus Hiroshima und Nagasaki befohlen hat. Das, so Anscombe, war Mord und ein Massaker. Und wenn man Truman die Ehrendoktorwürde verleihe, welchem anderen „Schlächter“ wolle man sie dann noch geben? Stalin etwa? Dabei bestreitet Anscombe gar nicht, dass Truman mit seiner Entscheidung, die Bombe werfen zu lassen, den Krieg beendet hat. Er hat verhindert, dass sehr viele Soldaten auf beiden Seiten getötet werden. Zugleich aber hat er zugelassen, dass dafür Tausende von Menschen sterben.
Die Situation, die Elisabeth Anscombe hier beschreibt, wird ihre Freundin und Kollegin Philippa Foot später als Trolley-Problem beschreiben. Das handelt von einer Straßenbahn (trolley), die außer Kontrolle geraten ist und droht, fünf Personen zu überrollen. Wenn man den Wagen auf ein anderes Gleis leitet, kann man das Leben der fünf Menschen retten. Allerdings befindet sich dort auch eine Person. Wie also soll der Weichensteller handeln? Darf man den Tod von einem Menschen in Kauf nehmen, um fünf Menschen zu retten?
„The Quartet“ handelt von genau solchen Fragen. Und weil sich die Geschichte zu einem großen Teil im Zweiten Weltkrieg abspielt, sind es Fragen von existenzieller Bedeutung. Aber oft ist es schwierig zu erkennen, was getan werden muss, weil die Umstände unklar sind oder völlig anders als bisher. „Das ist der Moment, in dem die Philosophie im eigentlichen Sinne zum Tragen kommt.“ (S. 33)
In Oxford hatte die Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich allerdings einer Antwort auf diese existenziellen Fragen verweigert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Physik mit Relativitäts- und Quantentheorie zur Leitwissenschaft geworden. Zahlreiche Philosophen versuchten, den Bedeutungsverlust der Philosophie zu verhindern, indem sie philosophische Sätze ebenso streng empirisch überprüfbar machen wollten, wie die Sätze der Physik.
In Wien arbeiteten die Philosophen des Wiener Kreises an diesem Programm. Einer von ihnen war Ludwig Wittgenstein, der in Oxford studiert hatte und jetzt dort lehrte. Als die Nazis auch in Österreich an der Macht waren, flohen viele der Mitglieder des Wiener Kreises nach Oxford. Im Sommer 1938, wenige Wochen nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland, besuchte Mary Midgley Wien. Zu diesem Zeitpunkt waren die Mitglieder des Wiener Kreises überwiegend emigriert. Moritz Schlick war 1936 erschossen worden. Als Mary sah, wie man mit den Juden umging, kam sie nach wenigen Wochen zurück nach Oxford.
Dort hatte sich die Philosophie gewaltig verändert. Eine zentrale Figur dabei war Alfred Jules Ayer. 1936 hatte er ein epochemachendes Buch veröffentlicht: „Language, Truth and Logic“. Es ist ein Schlüsseltext der analytischen Philosophie und des logischen Empirismus. Ayer vertritt darin die Ansicht, dass Sätze aus Metaphysik, Theologie und Ethik sich empirisch nicht überprüfen lassen – anders als z. B. Sätze aus der Physik. Ayer begreift einen Satz wie „Du sollst nicht töten“ als Gefühlsausdruck oder Befehl. Die Sätze seien nicht wahrheitsfähig, können also nicht als wahr oder falsch eingestuft werden, und hätten folglich nichts in der Philosophie verloren. Das war ein Generalangriff auf die gesamte abendländische Philosophie. Ayer wusste das. „Sie stehen alle vor ihrem vorzeitigen Niedergang“, erklärte er den versammelten Philosophiedozenten in Oxford, „die Armeen von Cambridge und Wien sind Ihnen bereits auf den Fersen.“ (S. 79/80)
Ayer machte mit diesem Angriff die Philosophie praktisch sprachlos. Denn jede moralische Äußerung wurde nur noch verstanden als Ausdruck des persönlichen Missfallens eines subjektiven Gefühls. Genau dagegen erhoben die vier Philosophinnen des Quartetts Einspruch. Philippa Foot wehrte sich entschieden dagegen, dass es nicht mehr möglich sein sollte, „zu einem Nazi auf eine Weise, die Substanz besaß, zu sagen: >Aber wir haben recht, und ihr habt unrecht.<“ (S.209)
Um diese Frage dreht sich das Denken der vier Frauen. Was ist das Gute? Wie lässt es sich begründen? Sie erarbeiten eine Tugendethik, die von der menschlichen Natur ausgeht und Tugenden wie Mut oder Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt. Dieser Ansatz macht ihr Denken heute hochaktuell. Wie sollen wir gegenüber Putin begründen, dass sein Angriff auf die Ukraine falsch ist? Warum ist es klug und richtig, Natur und Tier zu schützen? Warum sollen wir uns impfen lassen? Warum ist Nächstenliebe besser als Egoismus, auch wenn ich vielleicht durch meinen Egoismus und die Ausbeutung von Natur und Menschen sehr reich werden kann?
All das sind metaphysische Fragen. Die Menschen, so der Philosoph und Theologe Donald MacKinnon, bei dem Philippa Foot in Oxford studierte, sind „metaphysische Tiere“ (S. 140). Sie können gar nicht anders, als über das Transzendente, das Gute, den Geist und das Unendliche zu sprechen. Im Englischen heißt das Buch deshalb „Metaphysical Animals“. Die vier Philosophinnen des Quartetts versuchen, genau das zu retten. Ohne Metaphysik, Moralphilosophie und Ethik ist die Philosophie nicht mehr als ein leeres Gefäß ist, weil sie auf die wirklichen Fragen des Lebens gar nicht mehr antworten kann.
Mac Cumhail und Wiseman haben ein höchst lesenswertes und faszinierendes Buch geschrieben. „The Quartet“ ist so prall und bunt wie das Leben. Es geht um Liebe, um Religion, Ehe, Kinderkriegen, Freundschaft und die Philosophie. Vor allem aber geht es um ein Denken, das heute aktueller denn je ist. Und es macht deutlich, wie wichtig Frauen für die Philosophie sind, wenn wir sie menschlicher und lebendiger machen wollen. Gute Philosophie ist eben keine reine Männersache. Es ist die Sache von Männern und Frauen, von Menschen.
Udo