Emmanuel Faye: Hannah Arendt und Martin Heidegger

Neben Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre sind Hannah Arendt und Martin Heidegger wohl das berühmteste Paar der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Doch während Sartre und de Beauvoir ein ganzes Leben geteilt haben, zerbrach die Beziehung von Arendt und Heidegger nach nur wenigen Jahren. Dafür gab es zahlreiche Gründe. Heidegger war verheiratet und hatte Kinder. Schließlich aber brachte 1933 die Politik das Paar endgültig auseinander. Hannah Arendt war Jüdin, Martin Heidegger Nazi. Erst Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sahen die beiden einander wieder.

 

 

Der französische Philosoph Emmanuel Faye widmet sein neues Buch „Hannah Arendt und Martin Heidegger. Zerstörung des Denkens“ jetzt dieser spektakulären Beziehung. Dabei ist Fayes großes Thema die inhaltliche Nähe von Heideggers Denken und dem Nationalsozialismus. Mit seinem 2005 in Frankreich und 2009 in Deutschland erschienen Buch „Heidegger: Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie“ hat der Faye ein ganz neues Kapitel in der Auseinandersetzung um Martin Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus aufgeschlagen. Fayes These lautet, dass Heidegger nicht einfach ein Nazi war, der Philosophie betrieben hat, sondern dass Heideggers Texte selbst nationalsozialistisch sind. Und zwar ausdrücklich auch die Texte vor 1933, also vor allem „Sein und Zeit“ von 1927.

 

 

Jetzt legt Faye nach. Sein neues Buch „Hannah Arendt und Martin Heidegger. Zerstörung des Denkens“ will nachweisen, dass Heidegger und seine Schülerin und Geliebte Hannah Arendt ein gemeinsames Projekt verfolgt haben. Während es Heidegger um einen geistigen Nationalsozialismus ging, war das Ziel Hannah Arendts nach 1945 und der Wiederbegegnung mit Heidegger am 7. Februar 1950, die ehemaligen Nazis unter den deutschen Intellektuellen, allen voran Heidegger, zu entlasten.

 

 

Das ist eine steile Behauptung. Ob Heidegger nun „einfach nur“ Nazi war und diese Überzeugung teilweise ihren Niederschlag in seinen Schriften gefunden hat, oder ob sein Werk in eine Reihe mit Nazi-Denkern wie Alfred Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ (1930) gehört, möchte ich hier nicht diskutieren. Jedenfalls geht Faye in seinem neuen Buch auch nicht über seine Thesen in „Heidegger: Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie“ hinaus. Belassen wir es dabei, dass Heidegger Nazi war und Antisemit. Darüber braucht nach dem Erscheinen der „Schwarzen Hefte“ niemand mehr zu diskutieren.

 

 

Die Frage allerdings, inwieweit das zweifelhafte Leben einer Person auch ihre denkerischen oder künstlerischen Leistungen beeinträchtigt, ist ein ganz anderes Thema. Sollte man Wagner nicht mehr hören, weil er Juden hasste? Das sind schwierige und sehr grundsätzliche Fragen, die enorme Auswirkungen auf den Bestand unserer Kulturgüter haben.

 

 

Das eigentlich Kontroverse an Fayes neuem Buch ist seine Interpretation von Hannah Arendt. Arendt und Heidegger hatten eine lebenslange Beziehung, zuerst 1925 in Marburg war Arendt Heideggers Geliebte und Schülerin, sie gilt als die Muse von „Sein und Zeit“. Ab 1933 und mit Beginn von Heideggers Freiburger Rektorat bricht der Kontakt zwischen ihnen ab. Arendt flieht unter Lebensgefahr über Frankreich nach New York, wo sie bis zu ihrem Tod lebt und amerikanische Staatsbürgerin wird.

 

 

1946 erscheint Hannah Arendts Essay „Was ist Existenzphilosophie“. Darin kritisiert sie Heidegger geradezu vernichtend, er betreibe eine Philosophie der absoluten Vereinzelung des Menschen und habe später versucht, „seinen isolierten Selbsten in mythologisierenden Unbegriffen wie Volk und Erde wieder eine gemeinsame Grundlage nachträglich unterzuschieben.“ Und in ihren Briefen an Karl Jaspers aus dieser Zeit schreibt sie über Heideggers Charakterlosikgeit, der sich einfach darauf verlasse, dass ihn niemand „ins Gesicht einen Lügner nennen wird“ (Brief an Jaspers vom 29. September 1949).

 

 

Wenn man sich das alles vor Augen hält, fragt man sich, wie es kommt, dass Hannah Arendt Heidegger später in ihrer Laudatio zu dessen 80. Geburtstag über den grünen Klee loben wird. „Der Sturm, der durch das Denken Heideggers zieht – wie der, welcher uns nach Jahrtausenden noch aus dem Werk Platos entgegenweht. – stammt nicht aus dem Jahrhundert. Er kommt aus dem Uralten, und was er hinterlässt, ist ein Vollendetes, das, wie alles Vollendete, heimfällt zum Uralten.“

 

 

Faye stellt absolut zu Recht die Frage: Woher kommt dieser Wandel? Wie wird aus der scharfen Kritik am charakterlosen Heidegger das Lob, das ihn auf eine Stufe mit Platon stellt. Was ist da geschehen?

 

 

Zunächst einmal hat jede Antwort auf diese Frage eine rein persönliche Komponente. Die beiden hat eine tiefe menschliche Beziehung verbunden. Unmittelbar nach dem ersten Wiedersehen 1950 schreibt Arendt an Heidegger: „Dieser Abend und dieser Morgen sind die Bestätigung eines ganzen Lebens.“ (Brief vom 9. Februar 1950) Hannah Arendt, so schreibt sie es, hätte es als Untreue verstanden, Heidegger nicht wiederzusehen. Ein Bruch mit ihm wäre ihr als Untreue und Dummheit erschienen. Man kann darüber denken, was man will, aber wie heißt es so schön: Individuum est ineffabile, das Individuum ist unaussprechlich, es bleibt uns unverständlich. So oder so, jedenfalls nimmt Arendt von sich aus die Beziehung zu Heidegger wieder auf und wird sie bis zu ihrem Tod pflegen, sie wird sich für ihn einsetzen und helfen, wo sie kann. Auch wenn es immer wieder lange Phasen des Schweigens und der Verstimmung zwischen den beiden gibt. Faye ist klug genug, sich über diesen Aspekt der Beziehung zwischen den beiden nur wenig zu äußern.

 

 

Der andere Punkt, und darum geht es Faye, ist das Denken. Faye wirft Arendt vor, von Heidegger beeinflusst zu sein. Daraus hat sie nie einen Hehl gemacht. Als 1960 „Vita Activa“ erscheint, schreibt sie an Heidegger: „Du wirst sehen, dass das Buch keine Widmung trägt. Wäre es zwischen uns je mit rechten Dingen zugegangen – ich meine zwischen, also weder dich noch mich –, so hätte ich dich gefragt, ob ich es dir widmen darf; es ist unmittelbar aus den ersten Freiburger Tagen entstanden und schuldet dir in jeder Hinsicht so ziemlich alles.“ (Brief vom 28. Oktober 1960)

 

 

Was nun wirft Faye Hannah Arendt konkret vor? Er schreibt:

 

 

„Deswegen kam es uns darauf an, ihre entmenschlichende Betrachtung der Arbeiter sowie ihre aristokratische Vorstellung vom Miteinandersein, die in Wirklichkeit eine Politik für die happy few ist, aber auch ihre Entlastung der »Denker« des Nazismus und ihre Art und Weise, im Gegenzug dazu, die jüdischen Opfer zu belasten, darzustellen. Es galt zu zeigen, dass sie ein von einem nationalsozialistischen Historiker vertretenes Paradigma der griechischen polis übernimmt, die Kausalität im geschichtlichen Prozess ablehnt und sich weigert, die Intentionalität der Nazi-Bewegung zu berücksichtigen, die sie auf eine Art orientierungsloses Verzweifeln am Funktionszusammenhang der Massengesellschaft reduziert. Es war nötig zu zeigen, wie beiläufig Arendt die Philosophie verabschiedet, indem sie das heideggersche Annathema derselben übernimmt, und sich die Mythologie des »Denkers des Seins« zu eigen macht, um ihn von der ebenso trügerischen Figur des gedankenlosen Vollstreckers abzugrenzen.“ (S. 430)

 

 

Ich kann hier nur stichpunktartig auf die einzelnen Vorwürfe eingehen. In „Vita Activa“ unterscheidet Arendt bekanntlich zwischen Arbeiten, Herstellen und Handeln. Das Herstellen bezieht sich auf die Produktion von Dingen, die wir zum Leben brauchen und die uns teilweise auch überdauern. So stellen wir Häuser her, Töpfe, Teller, Werkzeuge und vieles mehr. Arendt spricht hier von Gebrauchsgegenständen, die sie von Verbrauchsgegenständen unterscheidet. Der Begriff des Handelns findet zwischen den Individuen statt. Es geht hier um Kommunikation, die wesentlich mit dem öffentlichen Raum verknüpft ist. Das Handeln ist für Arendt der Kern menschlicher Interaktion und damit auch der Politik.

 

 

Das Arbeiten schließlich dient dabei dem schlichten Überleben, also dem Erhalt der biologischen Prozesse des Körpers. In diesem Sinne arbeiten auch Tiere, wenn Sie Beutetiere jagen oder Gras fressen. Menschen müssen arbeiten, um zu essen, zu wohnen, sich zu kleiden. Wie immer diese Arbeit aussieht, ob wir am Fließband stehen oder jagen gehen. An Arbeit führt kein Weg vorbei. In diesem Sinne hat Arbeit auch nichts mit Freiheit nichts zu tun und Arendt kann Arbeit auch mit Sklaverei vergleichen. Wie die Sklaven haben wir keine andere Wahl.

 

Nun kann man allerdings auch leben und bei gewissen Tätigkeiten andere für sich arbeiten lassen. Das heißt allerdings nicht, dass man gar nicht arbeitet, man muss nur bestimmte, z. B. körperlich schwere Arbeiten nicht mehr tun. Dieses Verständnis von Arbeit, das Faye kritisiert, ist einfach nur realistisch. Wir können uns vom Zwang der Arbeit nicht befreien. Aber das bedeutet nicht, dass Arendt Arbeit entmenschlicht und nur ein paar bevorzugte Menschen in der Lage sind zu handeln. In jedem Augenblick, in dem wir mit anderen Menschen interagieren, handeln wir.

 

 

Der Punkt, dass Arendt den Juden eine Mitschuld am Holocaust vorwirft, bezieht sich vor allem auf die Auseinandersetzung um „Eichmann in Jerusalem“ und der Rolle der Judenräte bei der Organisation der Massenvernichtungen. Arendts Punkt war hier nicht, die Judenräte hätten heroischen Widerstand gegen die Nazis leisten sollen oder müssen. Sie fragt nur einfach: Warum haben die Räte bei der Organisation mitgeholfen? Sie hätten auch einfach gar nichts tun können und die Nazis ihr schmutziges Geschäft allein tun lassen, also z. B. dafür sorgen, dass alle Juden zu den Sammelstellen kommen. Das ist eine Debatte, die seit Erscheinen des Buches 1963 geführt wird. Faye reiht sich hier ein in die Kritiker Arendts. Es gibt eben so viele Verteidiger ihrer Position. Belassen wir es dabei.

 

 

Dass Arendt sich teilweise auf nationalsozialistische Denker bezieht, kann man ihr tatsächlich vorwerfen. Man muss allerdings auch fragen, welche Literatur vor allem zu der Zeit als sie direkt nach dem Zweiten Weltkrieg an „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ schrieb tatsächlich zu bekommen war, zumal in den USA, und was man damals über deren Autoren wissen konnte.

 

 

Zu der Intentionalität der Nazi-Bewegung: Dass die Nazis ein klares Ziel vor Augen hatten, würde Arendt wohl nicht bestreiten. Die Frage, die sich stellt, ist, warum die Massen mitmachen. Und hier stößt sie auf Begründungen wie die Vereinzelung in einer Massengesellschaft, die radikales Denken fördern, vor allen Dingen, wenn solches Denken mit den passenden Narrativen verbunden ist. Neuere soziologische Studien können die Zusammenhänge, die Arendt gesehen hat, belegen.

 

 

Bleibt die Frage Ihres Verhältnisses zur Philosophie Martin Heideggers. Das ist der eigentlich wunde Punkt ihres Denkens. Fayes These, dass Arendt grundsätzlich alle Intellektuellen entlasten wollte, die sich in den Dienst des Nationalsozialismus nationalsozialistisches Denken gestellt hatten, ist vollkommen überzogen. Aber sie wollte Heidegger entlasten. Das kann man ihr vorwerfen.

 

 

Hannah Arendt allerdings grundsätzlich unter Generalverdacht zu stellen, wie Faye das tut, geht eindeutig zu weit. Teilweise erinnern mich Fayes Vorwürfe gegen Arendt an Verschwörungstheorien. Das beginnt damit, dass ich bei vielen Texten, die er interpretiert einfach den Text anders verstehe als er. Faye liest Dinge im Text, die m. E. dort nicht stehen. Ein Beispiel aus „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Arendt schreibt:

 

 

„Was hingegen jene Angehörigen der geistigen und künstlerischen Elite anlangt, die sich in so betrübend großer Zahl bei der einen oder anderen Gelegenheit von den totalitären Bewegungen haben verleiten lassen und denen man sogar wegen ihrer überragenden Fähigkeiten manchmal vorwirft, sie hätten diesen ganzen Höllenspuk inspiriert, so muß in aller Gerechtigkeit gesagt werden, daß, was immer diese verzweifelten Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts begangen oder unterlassen haben, sie auf die totalen Herrschaftsapparate niemals und nirgendwo irgendeinen Einfluss hatten.“ (aus Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2023, S. 781)

 

 

Faye liest hier, dass Nationalsozialisten wie der Jurist Carl Schmitt (1888 – 1985) oder der Historiker Walter Frank (1905 – 1945) sich den Nazis „aus Verzweiflung“ angeschlossen hätten, sozusagen als letzter Ausweg. Ich lese in dem Zitat nur, dass diese Menschen aus welchen Gründen auch immer verzweifelt waren. Das ist eine kleine, aber entscheidende Nuance im Text. Man kann diskutieren, ob Schmitt z. B. großen, kleinen oder keinen Einfluss auf die Nazis hatte – aber darum geht es nicht. Mir geht es um die Art und Weise, wie Faye mit Arendts Texten umgeht. Er geht nämlich davon aus, dass Arendt eigentlich etwas ganz anderes meint, als sie vordergründig sagt. Faye zufolge wirft sie Nebelkerzen, um ihre wahren Absichten zu verschleiern. Er nennt das ihren „Modus der Antiphrase“ (S. 429) Sie behauptet zunächst, etwas gut zu finden, um es dann zu destruieren. Faye nennt hier ausdrücklich ihr Verhältnis zu den Menschenrechten und zum Rassismus. Nun kann man die Menschenrechte gut finden und trotzdem Kritik an ihnen üben, das heißt aber noch lange nicht, dass man die Menschenrechte deswegen abschaffen möchte.

 

 

Man muss sich doch fragen, warum das außer Emmanuel Faye eigentlich noch niemandem aufgefallen ist. Man darf davon ausgehen, dass die Leserinnen und Leser von Hannah Arendt nicht dumm sind. Vor allem: Warum sollte Hannah Arendt solche Nebelkerzen werfen? Im Gegensatz zu Martin Heidegger, der nach 1945 seine politischen Verstrickungen vergessen machen wollte, hatte sie es – mit ihrer Biografie als verfolgte Jüdin– nicht nötig, mit ihren Ansichten hinter dem Berg zu halten. Im Fall von „Eichmann in Jerusalem“ hat sie das schließlich auch nicht getan und einen Shitstorm dafür geerntet.

 

 

So bleibt als Fazit zu Fayes Buch, dass seine Kritik bzgl. Heidegger nichts wesentlich Neues bringt und kaum über seine Thesen in „Heidegger: Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie“ hinausgeht. Bezogen auf Hannah Arendt ist seine Kritik völlig überzogen und erinnert mich teilweise an die Behauptung von Verschwörungstheoretikern, man müsse nur die richtigen Fragen stellen, dann ergebe alles einen „Sinn“.

 

 

Die Frage schließlich, warum Hannah Arendt trotz Heideggers Nationalsozialismus immer wieder die Nähe zu ihm gesucht hat, lässt sich meiner Ansicht nach nicht mit den Mitteln der Philosophie beantworten, wenn man die Texte nicht über Gebühr strapazieren will. Es ist eine Frage des Herzens, über die wir nicht zu entscheiden haben.

 

 

 

 

 

Emmanuel Faye: Hannah Arendt und Martin Heidegger. Zerstörung des Denkens, Königshausen & Neumann, Würzburg 2024.

 

Udo

 

 

 

 

 

Kommentare: 1
  • #1

    Gabi Rechenberger (Montag, 26 August 2024 23:14)

    MM waren Arendt und Heidegger beides:Denkende und Liebende und das in einer sehr schwierigen Zeit.Die Besprechung des Buches hat mir das wieder einmal deutlich gemacht.