„Lazarus komm heraus!“ Mit der Provokativen Therapie Frank Farrellys auf den Spuren der Erlösung von Georg Hummler hat alles, was ich an einem theologischen Buch mag! Es ist spannend, es ist sprachlich klar und flüssig geschrieben, es zeugt von Klugheit und Wissen. Es analysiert, stellt Fragen und hinterfragt neugierig und originell, geht intellektuell und spirituell in die Tiefe, bezieht die Biographie und die Erfahrungen des Autors ein. Das ist insofern ungewöhnlich, als es sich bei diesem Buch um eine Dissertation handelt. Möglich ist es deshalb, weil Georg Hummler mehr als 25 Jahre als Theologe und Psychotherapeut in der Klinikseelsorge tätig war und das in sein Lazarus-Buch einschreibt. So finden sich nicht nur Fallbeispiele aus der klinisch-seelsorglichen Praxis mit seinen Patient*innen (zumeist an infauster Diagnose leidend), sondern es fließen auch Lebenserfahrungen in den Gedankengang der insgesamt 5 Kapitel und in erläuternde Exkurse ein.
Der Katalysator des Buches sind die Provokative Therapie und ihr Begründer, der US-Amerikaner Frank Farrelly (1931-2013). Frank Farrelly, aus der Schule der humanistischen, personenzentrierten Psychotherapie Carl Rogers kommend, war Georg Hummlers Therapielehrer zwischen 2005-2008. Farrelly überzeugte ihn zunächst durch seine Methodik, in der Humor, die Provokation und die wohlwollende, liebevolle Akzeptanz durch den Therapeuten eine zentrale Rolle spielen. Heilung nicht durch Tränen, vielmehr Heilung durch Provokation, oft mittels tabubrechender Sprache und Bilder, Lachen über eigene Defizite. Damit gelingt es, Patient*innen, die sich angesichts eines selbst- und fremdschädigenden Verhaltens- oder Haltungsmusters seelisch wie gefühllos, unbeweglich, tot erleben, aus ihren ´selbstgebauten Gräbern´ wortwörtlich herauszurufen.
Die Analogie zur biblischen Geschichte von Lazarus, den Jesus Christus aus dem Grab ruft: „Lazarus, komm heraus“ (Joh 11) drängt sich auf. Das Interesse des Theologen Hummler ist geweckt,
allerdings nicht nur durch die Therapiemethode. Theologisch anziehend ist zudem die geistige, vom christlichen Erlösungsglauben getragene Grundhaltung des Katholiken Frank Farrelly, die hinter
seiner Therapieform steht. Die spirituellen Motive Frank Farrellys und seine religiös-assoziative Sprache mit ihrem oft biblisch geprägten Bilder- und Metaphernschatz will der Autor in ihrer
„spirituell-theologischen und letztlich auch psychotherapeutischen Dimension“ (S. 42) verstehen. Das Buch ist ein Spiegel dieses Verstehensprozesses.
Georg Hummler arbeitet mit Analogie und Vernetzung, wodurch ihm eine originelle Art von Networking gelingt. Er zieht Verbindungen innerhalb eines großen Fundus an Erfahrung in pastoraler, psychotherapeutischer, spirituell-theologischer und ostkirchlich-liturgischer Praxis sowie einem sehr genauen und differenzierten intellektuellen Ausleuchten der exegetischen und dogmatischen Fragen zur Erlösungstheologie. Man spürt: Hinter diesem Buch stecken viel intensiv gelebter Glauben und Glaubenswissen.
Die Lesenden werden mitgenommen in eine spiralförmige, immer tiefer (oder höher) gehende Denkbewegung um ein im Grunde einziges Thema: das der Erlösung. Und zwar die Erlösung bzw. Heilung des in sich gefangenen, leidenden, psychisch kranken Menschen sowie theologisch geweitet die Erlösung des Menschen im christlichen Horizont.
Dazu erläutert der Autor zunächst die Praxis der Provokativen Therapie. Er ordnet deren Verfahrensweise pastoralpsychologisch ein, zeigt sie als Weiterentwicklung von Carl Rogers personenzentriertem Ansatz und zieht Verbindungslinien zu Viktor Frankls Logotherapie, Milton Ericksons Hypnotherapie sowie systemischen Ansätzen (Kapitel 2). Dieser Teil der Arbeit ist nicht einfach nur ein Erkenntnisgewinn, sondern auch eine anregende, oft überraschende und humorvolle Lektüre. Und das deshalb, weil Georg Hummler seine kritische Auseinandersetzung mit Fallbeispielen aus der klinischen Seelsorge illustriert. Man geht im Zuge der Lektüre quasi mit in eine provokationstherapeutische Behandlung der Patient*innen mittels Komik, Humor, Paradoxien und der liebevollen Wertschätzung durch den Therapeuten.
Eine Überleitung in den theologischen Teil der Arbeit bildet ein eigenes Kapitel über Humor, Lachen und das Paradoxon. Die für die Provokative Therapie so grundlegende Denkfigur des Paradoxons ist der Link zum Paradoxon in seiner erlösenden Funktion im Christentum (Kapitel 3). Umfänglich und detailliert wird nachgewiesen, inwiefern der Ansatz der Provokativen Therapie mit ihren Paradoxien geistig dem Erlösungsdenken in der christlichen Theologie (Soterio-Logik) ähnlich ist. Ausgehend von den Paradoxien der Theologie kann der Ansatz der Provokativen Therapie umgekehrt als Soteriopraxis erklärt werden. Dazu geht der Autor den Bestandteilen der Erlösungsvorstellungen der christlichen Überlieferung nach, die in Farrellys Provokativer Therapie relevant sind. Der „Theologische Schlüssel der Provokation“ (S.191) hierfür ist der Ruf, die „Pro-vocatio“ Jesu Christi an Lazarus in Joh 11,43: „Lazarus komm heraus!“ Die Untersuchung läuft über höchst interessante Stationen im Kontext christlicher Erlösungslehre zu auf die Exegese von Joh 11, 1-44 „Lazarus komm heraus“. Die Stationen sind z.B. Stellvertretung, Passio Caritatis, Kenosis, Sünde, Allerlösung, Höllenlehre, Erlösung in ostkirchlicher Theologie und Liturgie oder die Höllenfahrt des Karsamstags.
Mit seinem „Lazarus komm heraus“ hat Georg Hummler ein kerygmatisches Osterbuch geschrieben. Geht man mit durch die Auslegung der liturgischen Texte des Christlichen Ostens, durch die Oden des Osterkanons des Johannes von Damaskus, die der „kleinen“ Auferstehung am Lazarus-Samstag oder die Gesänge des Karsamstags, versteht man: Erlösung ist eine Tatsache, kein Glaubenssatz. Und man versteht, dass der psychotherapeutische Ansatz der Provokativen Therapie als ein Stück Soteriopraxis verstanden werden kann.
Sabine
Burkhard (Donnerstag, 30 März 2023 20:39)
Besten Dank, Sabine. Du hast dieses beeindruckende Werk trefflich beschrieben. An manchen Stellen muss man sich durchbeißen, an anderen Stellen kann man sich das Lachen nicht verkneifen und staunt über den Humor von Farrelly und dem Autor. Es öffnet sich ein Horizont und Erkenntnisse aus Therapie, Theologie und Orthopraxie werden in Verbindung gebracht. Aus eigener Erfahrung kann ich nur bestätigen: "Lazarus, komm heraus!" - was für ein Ruf aus der dunklen Grabeshöhle. Das Buch bestärkt diesen Ruf eindrücklich!