Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion

Hartmut Rosas Buch basiert auf einem Vortrag, den der Soziologe 2022 beim Würzburger Diözesanempfang gehalten hat. Gerade 75 Seiten hat der Text, acht davon entfallen auf das Vorwort von Gregor Gysi. Aber diese wenigen Seiten haben es in sich.

 

Rosa behandelt im Kern die Thesen seiner zwei wohl wichtigsten Bücher. Zunächst „Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne“ aus dem Jahr 2005, dann „Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung“ von 2016. Das Resonanz-Buch will Rosa verstanden wissen als Antwort auf seine These von der permanenten Beschleunigung. Denn die Lösung unseres „rasenden Stillstands“ (Paul Virilio) ist es eben nicht, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Die Lösung liegt in der Resonanz, im Hören aufeinander.

 

Rosas Beschleunigungsthese geht viel weiter als die schlichte Behauptung, dass das Leben immer schneller wird. Sein Punkt ist, dass die Gesellschaft permanent beschleunigen muss, um den Status quo zu erhalten. Eigentlich sollte man meinen, für das reine Erhalten des gegenwärtigen Zustandes braucht man eine gewisse und gleichbleibende Menge an Energie oder eine bestimmte Geschwindigkeit (der Arbeit z. B.). Dabei ist es natürlich interessant, wenn man mit gleicher Energie mehr erwirtschaftet oder wenn man mit weniger Energie gleichbleibende Erträge hat. Alles gut so weit. Rosas Punkt ist der des permanenten Wachstums, um nicht zu schrumpfen. Rezession ist das große Angstwort in Politik Wirtschaft.

 

„Noch absurder ist, dass wir dieses ganze Wachstum ja gar nicht deshalb haben wollen, weil wir einfach gierig wären. Wir brauchen es, weil wir ohne Wachstum das gesamte bestehende gesellschaftliche Gefüge nicht mehr erhalten können. Wenn wir jetzt beschließen, wir wollen nicht mehr wachsen, dann haben wir nicht nur über Nacht jede Menge Arbeitslose und geschlossenen Firmen, dann sinken auch die Steuereinnahmen des Staates, aber gleichzeitig steigen die Ausgaben, weil wir zum Beispiel das Wachstum wieder in Gang bringen müssen, aber vor allen Dingen, weil wir diejenigen bezahlen müssen, die aus der Arbeit raus sind.“ (S. 38)

 

Woher kommt dieser Zwang zum permanenten Wachstum? Rosa antwortet darauf in seiner Rede nicht. Eine mögliche Ursache ist z. B., dass er eine Folge unserer Geldpolitik ist. Da jedem Euro ein realer Gegenwert entsprechen sollte, muss die Wirtschaft bei zunehmender Verschuldung einer Gesellschaft immer schneller wachsen, damit das Gleichgewicht von Geldmenge und Warenwert erhalten bleibt. Wachstum also als Folge unseres Lebens auf Pump, auf Kosten zukünftiger Generationen.

 

Dieser Zwang zum Wachstum, so Rosa, stiftet „systematisch ein Aggressionsverhältnis zur Welt“ (S. 41). Wir müssen die Erde ausbeuten, um zu wachsen und wir reiben uns in Verteilungskämpfen auf. Das gesellschaftliche Klima wird zunehmend rauer. Impfgegner, Querdenker, Verschwörungstheoretiker, die Gelbwesten in Frankreich, der Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer, die Letzte Generation, selbst der Ukraine-Krieg – all das sind Symptome dieser systematischen Aggression.

 

Dem will Rosa nun nicht irgendeine Slow-down-Bewegung entgegensetzen, sondern Resonanz. Und das meint ganz einfach: Hören wir aufeinander. Die Jahreslosung 2022 lautete „Gib mir ein hörendes Herz.“ (1Kön 3,9) Wir brauchen Räume, in denen das Zuhören wieder möglich wird. Resonanzräume, die frei sind von jedem Wettbewerb und die uns frei machen zum Hören. Von Musik, von Stimmen, von Argumenten.

 

Demokratie braucht solche Resonanzen, wenn sie funktionieren will. Der demokratische Wettbewerb funktioniert nur, wenn wir miteinander im Gespräch bleiben. Er endet überall dort, wo wir uns anschreien. Hören wir also zu, was die andere Partei bewegt? Wie kommt sie zu ihrer Position? Und lassen sich Gemeinsamkeiten finden. Das ist ein mühsamer Prozess, weshalb der Fortschritt eine Schnecke ist, wie wir von Günter Grass gelernt haben.

 

Religion nun, und damit sind wir beim Ort von Hartmut Rosas Rede, dem Würzburger Diözesanempfang, verfügt über solche Resonanzräume: die Kirchen. Wir besuchen sie, um auf das Wort Gottes zu hören. Und wir hoffen darauf, dass auch Gott uns hört, wenn wir beten. Religion ist ein „vertikales Resonanzversprechen (…) Am Grunde meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung.“ (S. 71)

 

Religion sagt, wir können uns anrufen lassen, wir können in Resonanz stehen. Und genau diesen Sinn zu erhalten, daran zu erinnern, dass Resonanz möglich ist und manchmal sogar heilsam, macht ihre Bedeutung für die Demokratie aus.

 

Braucht Demokratie die Religion? Hartmut Rosas Antwort darauf ist ein klares Ja, nachzulesen in diesem wirklich fulminanten Essay.

 

Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion. Über ein eigentümliches Resonanzverhältnis, Kösel-Verlag München 2022 u. ö.

 

 

Udo

Hartmut Rosas Rede gibt es auch bei YouTube:

Kommentare: 1
  • #1

    S.B.Marquardt (Samstag, 01 Juli 2023 19:05)

    Eine tolle Besprechung!