Es ist der Januar 2021, wir sind mitten im zweiten Corona-Lockdown. Eigentlich will der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer Einkehrtage in der belgischen Trappistenabtei Orval verbringen. Der Lockdown macht das allerdings unmöglich. So entschließt Wilmer sich zu einer inneren Einkehr in Hildesheim. Er richtet sich einen kleinen, kargen Raum ein.

 

„Ein eigener Tisch, ein zusätzlicher zum Schreibtisch. Ich habe mir fest vorgenommen, mein Büro nicht zu betreten. Nicht zu telefonieren, keine Post zu lesen oder zu beantworten, auch keine neueren technischen Medien zu benutzen, um mit den Menschen in Kontakt zu bleiben. Kein Radio, kein Fernsehen. Nein, auch keinen Kontakt mit den Menschen, die im Haus arbeiten. Nur das Allernötigste.“ (S. 25)

 

Von Samstag, 16. Januar 2021 bis Samstag, 23. Januar 2021, verbringt Wilmer den größten Teil des Tages in diesem Raum und liest im Tagebuch von Etty Hillesum: „Das denkende Herz der Baracke. Die Tagebücher von Etty Hillesum. 1941-1943“.

 

Etty Hillesum war eine niederländische Jüdin und Intellektuelle. 1940 wurden die Niederlande von Deutschland besetzt und die Juden im Land zunehmend entrechtet und verfolgt. Unter diesen angespannten Bedingungen lernte Etty im Frühjahr 1941 den deutschen Emigranten Julius Spier kennen. Er war Psychoanlaytiker und Anhänger C. G. Jungs. Unter Spiers Einfluss begann Etty, regelmäßig Tagebuch zu führen. Im September 1943 wurde sie in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo man sie vermutlich am 30. November 1943 ermordet hat. Sie war keine 30 Jahre alt. Kurz vor ihrer Deportation hatte sie ihr Tagebuch einer Freundin übergeben. Zusammen mit einigen wenigen Briefen wurde das Tagebuch 1981 erstmals veröffentlicht. 1983 erschien es in Deutschland unter dem Titel „Das denkende Herz der Baracke“. Seit Erscheinen gilt es als eines der beeindruckendsten Zeugnisse der Holocaust-Zeit.

 

Heiner Wilmer führt seine Auseinandersetzung mit dem Tagebuch als eine Art Dialog, Er schreibt Etty Briefe. Das beginnt mit der Frage, wie er sie ansprechen soll.

 

„Soll ich sagen, wie ich es gelernt habe, «Liebe Etty», oder soll ich einfach sagen: «Etty»? So wie ich dich einschätze, wärst du mit «Etty» völlig einverstanden. Aber ich will doch bei dem bleiben, was mich prägt, und fange an: Liebe Etty, ich muss mit dir reden.“ (S. 23)

 

Das ist der Ton, der im Buch vorherrscht. Er ist für mein Empfinden ein wenig zu naiv, aber natürlich ist Wilmer alles andere als naiv. Ihm geht es bei seiner Auseinandersetzung mit Etty Hillesum um die Frage, wie man angesichts von Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit trotzdem unbeirrbar an das Gute und sogar an Gott glauben kann. Theodizee also. Aber Wilmer argumentiert jetzt nicht mit Leibniz und anderen Geistesgrößen. Er befragt Etty Hillesum darauf. Denn sie hat unter den verheerenden, menschenverachtenden Umständen der deutschen Besatzung gelebt. Schon früh ist ihr klar, was das alles für sie bedeutet. Trotzdem verzweifelt sie nicht. Trotzdem glaubt sie an Gott. Warum? Wie schafft sie das?

 

Eine Antwort, die er bekommt, lautet: Wir erfahren Gott in der Schönheit, die uns überall und immer wieder begegnet. In Literatur, Musik, Kunst. Das Leben ist schön, das Erhabene, das Zweckfreie. Vielleicht begegnet uns Gott darin. Wilmer schreibt:

 

„Was würdest du zu folgendem Gedanken sagen: Nur die Schönheit wird die Welt retten, weil sie Begegnung und Sinn regelt? Nichts zählen die Menschen der Macht im Vergleich zu den Künstlerinnen und Künstlern, die mit ihren Werken Harmonie und Disharmonie schaffen? Ist Gott nicht der größte Künstler? Der Schöpfer des Universums? Kann es sein, dass darüber hinaus das Schöne uns am Ende verwandelt wie in einer großen Metamorphose? Kann es sein, dass die Hoffnung genau dort lebt, wo der verwandelte Mensch die Welt verwandelt?“ (S. 95)

 

Hoffnung haben, das bedeutet bei aller Abhärtung, die einem das Leben abverlangt, nicht zu verhärten. Nicht auf einer Moral zu beharren, nicht zu verurteilen und vor allen Dingen nicht zu hassen. Den Hass, der einem selbst entgegenschlägt, dürfen wir nicht mit Hass bekämpfen, denn am Ende vernichtet der Hass uns selbst. Was wir brauchen, ist Erlösung, Sinn. Und damit uns das gelingt, müssen wir ein Stück von Gott in uns selbst retten. Das ist für Wilmer einer der zentralen Gedanken von Etty Hillesum, von dem dann auch der Buchtitel herrührt: „Herzschlag“.

 

„Gott kann uns nicht helfen, sagst du, das werde dir fast mit jedem Herzschlag klarer, wir müssten ihm helfen. Es ist nicht, als würdest du sagen, Gott habe euch verlassen, nein, das ist es nicht. Gott ist schon da. Aber Gott habe keine Macht, Gott sei offensichtlich ohnmächtig. Deshalb müssten wir ihm helfen. Deshalb willst du ihm helfen, dass er dich nicht verlässt, dass er in dir bleibt, und deshalb würden wir, wenn wir ihm helfen, in uns zu bleiben, am Ende uns selbst helfen. Mehr noch: Vielleicht sogar könnten wir ihm helfen, dass er in den Herzen der anderen Menschen aufersteht, vor allem in jenen, die gequält seien, die dem Unabwendbaren nicht entrinnen können.“ (S. 89)

 

Das führt zu einem ganz anderen Gottesbild. Gott ist nicht mehr der, der uns in jeder Situation beisteht, der „mit uns allen durch dick und dünn geht“ (S. 90). An diesen hilflosen Gott zu Glauben, ist anstrengend, eine Zumutung. Aber „Gott ist nicht nett“, so der Titel eines anderen Buches von Heiner Wilmer.

 

Es sind solche Gedanken, die das Buch lohnen. Angesichts der derzeitigen Weltlage mit ihren Kriegen und gesellschaftlichen Spannungen haben wir sie nötiger denn je. Wir brauchen „Dichter und Denker (…) und Beter“ (S. 155), die uns davon erzählen, dass am Ende immer das Gute siegt. Davon handelt alle großen Geschichten. „Der Herr der Ringe“ ebenso wie Etty Hillesums Tagebuch. Und die Bibel.

 

Ein Hinweis noch an die Leserinnen und Leser der gedruckten Ausgabe von „Herzschlag“. Das Buch nennt datiert Wilmers Tagebucheintragungen auf die Zeit vom 16. das 23. Januar 2020. Das ist ein bedauerlicher Fehler des Verlags, der in der E-Book-Ausgabe korrigiert wurde. Die Notizen stammen aus dem Jahr 2021. Am 16. Januar 2020 hatte es noch keinen einzigen Corona-Fall in Deutschland gegeben.

 

Heiner Wilmer: Herzschlag. Etty Hillesum – eine Begegnung, Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2024.

Udo

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