Herfried Münkler gehört zu den führenden politischen Köpfen, die wir derzeit haben. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die politische Theorie und die Ideengeschichte. Bis 2018 lehrte er an der Humboldt Universität Berlin. Jetzt, im Ruhestand, kehrt er zu seinen Ursprüngen zurück. Die liegen in der politischen Ideengeschichte, Münkler hat sich zum Beispiel eingehend mit Machiavelli und Hobbes beschäftigt.
In seinem neuen Buch vergleicht Münkler nun Marx, Wagner und Nietzsche. Das liegt zunächst einmal durchaus auf der Hand. Alle drei gehören zu den großen Denkern des 19. Jahrhunderts. Jeder von ihnen hat versucht, die „Welt im Umbruch“ (so Münklers Untertitel), die das 19. Jahrhundert war, zu interpretieren. Industrialisierung, Revolutionen, Kriege, soziale Verwerfungen, religiöse Spannungen, eine rasante Beschleunigung des Lebens – mit all diesen Themen haben sich Marx, Wagner und Nietzsche auseinandergesetzt. Und alle drei haben teilweise verheerende Folgen im 20. Jahrhundert gehabt. Kommunistische Diktatoren und Antisemiten haben sich auf sie als Vordenker berufen. Für diese „Aneignungen“ sind die drei Denker selbst kaum verantwortlich zu machen. Zumindest Marx und Nietzsche wurden regelrecht instrumentalisiert.
Die Ausgangslage für eine Parallelisierung der drei scheint also gut. Aber ganz so einfach ist die Sache dann doch nicht. Denn tatsächlich haben die Protagonisten nur teilweise etwas miteinander zu tun. Da ist natürlich die frühe Verbindung von Wagner und Nietzsche in Liebe und Verehrung, sie später in schroffe Ablehnung umschlägt. Die Geschichte vom Tribschener Idyll bis zum „Fall Wagner“ ist hinlänglich bekannt. Aber sonst bestehen zwischen Marx, Wagner und Nietzsche nur lose Verbindungen. Marx hat von Wagner immerhin gehört. Im Sommer 1876 ist er auf dem Weg zu einer Kur nach Karlsbad. Als er in Nürnberg Rast machen will, bekommt er kein freies Zimmer mehr. Die Stadt ist überschwemmt von Besuchern, die alle „zu dem Bayreuther Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner“ wollen, wie Marx schreibt. Eine Oper von Wagner hat er nie gesehen.
Es ist also nicht so, dass sich Münkler auf ein Beziehungsgeflecht berufen kann, auf gegenseitige Kommentare, Briefe etc. Man kennt sich, aber das war es dann auch, wobei wir Wagner und Nietzsche immer ausnehmen müssen. Vor diesem Hintergrund hat Münkler darauf verzichtet, so etwas wie Parallelbiografien zu schreiben. Er geht das Thema über „Knotenpunkte“ an, über biographische und thematische Gemeinsamkeiten. Das ist ein kluger Ansatz und teilweise tatsächlich hochinteressant. Alle drei Männer waren krank, und diese Krankheiten haben auch ihr Leben bestimmt. Alle drei Männer hatten ein Leben lang Geldprobleme, auch das hat tiefe Spuren in ihrem Denken hinterlassen. Alle drei sind entscheidend durch Schopenhauer beeinflusst worden.
Ein anderes Thema sind die europäischen Juden. Wagner war Antisemit bis auf die Knochen, überall spüren er und seine Frau Cosima dem Jüdischen nach. Nach dem Bruch mit Nietzsche besucht Nietzsches Freund Paul Rée die Wagners in Bayreuth. Und plötzlich sehen sie, „daß er Israelit sein muß“. Kleidung, Physiognomie, Sprache, Auftreten, überall lauert für Wagner der Jude. Auch bei Marx finden sich antisemitische Klischees. Seinen Weggefährten Ferdinand Lassalle, immerhin einer der führenden Köpfe der deutschen Arbeiterbewegung, bezeichnet er als „jüdischen Nigger“, was ihn allerdings nicht daran hindert, Lasalle immer wieder anzupumpen. Bei Nietzsche schließlich ist die Sache komplizierter. Auch er bedient antisemitische Klischees, lehnt allerdings den Antisemitismus seiner Schwester radikal ab.
Aber was bei einigen von Münklers Knotenpunkten erstaunlich gut funktioniert, wirkt bei anderen nur mühsam. Im Kapitel „Das große Umsturzprojekt: Gesellschaft, Kunst und Werteordnung“ etwa untersucht Münkler ausführlich Wagners Oper „Rienzi, der letzte der Tribunen“ von 1842. 1347 hatte Cola di Rienzo in Rom einen Aufstand angezettelt, den Edward Bulwer-Lytton zu seinem Roman „Rienzi, or the Last of the Tribunes“ (Rienzi, der letzte Tribun, 1835) inspiriert hatte. Dieser Roman war die Vorlage von Wagners Oper. Nun wäre es spannend, Wagners, Nietzsches und Marx‘ Interpretationen der Figur dieses Revolutionärs zu vergleichen. Aber Marx und Nietzsche interessieren sich nicht für ihn. Allerdings hat Friedrich Engels über Rienzo geschrieben. Also vergleicht Münkler Wagner und Engels. Genau das ist das Problem des Buches: Viel zu oft wirken Münklers Parallelisierungen forciert, wenn nicht gar willkürlich, was die Lektüre teilweise mühsam macht.
Außerdem hätten dem Buch gewisse Straffungen gutgetan. Münkler schreibt immer wieder viel zu ausführlich über Wagners Opern, allein 30 Seiten etwa über den „Parsifal“ als Religionskritik. Nietzsche dagegen wirkt im gesamten Buch unterrepräsentiert.
Herfried Münkler hat mit „Marx, Wagner, Nietzsche“ ein kluges und lehrreiches Buch geschrieben, das einen mit vielen neuen Einsichten und Gedanken belohnt. Die allerdings muss man sich hart erkämpfen, mit seinen 718 Seiten hat man auch ein gewaltiges Stück Lesearbeit vor sich, das es einem nicht immer leicht macht.
Herfried Münkler: Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch Rowohlt Berlin, 2021.
Udo
Herschbach Thomas (Montag, 14 Februar 2022 18:38)
Präzise, schlüssig und lesenswert. Das macht Freude auf mehr.