„Freiheit und Finsternis“ von Martin Mittelmeier ist ein Buch über ein Buch. Das erinnert an trockene Sekundärliteratur und verstaubte Bibliotheken. Aber erstens ist das Buch über das Mittelmeier geschrieben hat, nicht irgendein Buch, sondern die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Und zweitens erzählt Mittelmeier uns die Geschichte dieses philosophischen Großtextes des 20. Jahrhunderts auf eine ebenso kluge wie spannende Art und Weise.
Man kann Mittelmeiers Ansatz vielleicht so zusammenfassen: Wenn man sich ernsthaft mit der „Dialektik der Aufklärung“ auseinandersetzen will, ist es mehr als hilfreich, sich die Geschichte der Entstehung des Textes anzusehen. Denn die „Dialektik“ ist auch ein Spiegel ihrer Zeit.
Horkheimer und Adorno gehören zur sogenannten Frankfurter Schule. Max Horkheimer ist Direktor des ehemals Frankfurter Instituts für Sozialforschung, das 1933 von den Nazis aufgelöst worden war. Horkheimer hatte allerdings rechtzeitig das Stiftungsvermögen des Instituts ins Ausland geschafft und siedelte das Institut schließlich in New York an. 1938 kam Adorno aus London als offizielles Institutsmitglied dazu.
In den USA der 1930er und 1940er Jahre leben zahlreiche deutsche und jüdische Intellektuelle, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen sind. Eine von ihnen ist Hannah Arendt. Wir begegnen ihr gleich auf der ersten Seite von „Freiheit und Finsternis“. Arendt ist in New York auf dem Weg zu Adorno. Es ist ein schwerer Gang für sie. Adorno die Habilitation ihres ersten Mannes Günther Anders abgelehnt. Seitdem hegt sie eine tiefe Abneigung gegen ihn, die sich darin zeigt, dass sie sich weigert ihn nach dem Namen seiner Mutter Adorno zu nennen. Für Hannah Arendt ist es immer nur Wiesengrund, so Adornos Geburtsname nach seinem Vater.
Arendt und Adorno haben einen gemeinsamen Freund: Walter Benjamin. Benjamin hat sich im September 1940 auf der Flucht vor den Nazis in Spanien das Leben genommen. Kurz vor seinem Tod übergab er Hannah Arendt sein Manuskript „Über den Begriff der Geschichte“ mit der Bitte, den Text Adorno zu bringen, falls ihm etwas passieren sollte. Dieser Pflicht kommt Arendt im Juni 1941 nach, sie selbst ist erst vor ein paar Wochen in Amerika angekommen.
Benjamins kurzer Text gibt den Anstoß zur „Dialektik der Aufklärung“. Es soll ein Buch werden im Sinne Walter Benjamins, ein Buch, das die Geschichte einer Gesellschaft erzählt, die den Faschismus möglich gemacht hat. Wie können wir verstehen, dass eine aufgeklärte Zivilisation zurück in die verheerendste Barbarei versinkt?
Von 1941 bis 1944 schreiben Adorno und Horkheimer an der Dialektik. Die erste Auflage erscheint in einer Kleinauflage im Siebdruckverfahren zu Friedrich Pollocks 50. Geburtstag. 1948 kommt der Text in Buchform nach Europa, allerdings hat man ihn politisch entschärft und marxistische Ausdrücke wie z. B. Kapital durch den neutraleren Begriff Wirtschaft ersetzt. Die Auflage beträgt gerade 2.000 Exemplare. Und die verkaufen sich nicht. Erst mit der Studentenbewegung in den 1960er Jahren wird das Buch allmählich entdeckt und zu einem der philosophischen Schlüsseltexte des 20. Jahrhunderts. 1969, im Jahr der Neuauflage nach 1948, stirbt Adorno. Er erlebt den Erfolg des Buches nicht mehr, anders als Horkheimer, der 1973 stirbt.
Hannah Arendt ist Teil des illustren Personals, das die Enstehungsgeschichte der Dialektik begleitet. Den wohl größten Einfluss auf das Buch hat Thomas Mann. Wie Adorno war Mann auf der Flucht vor den Nazis nach Pacifik Palisades gekommen. Dort beriet Adorno Mann beim Verfassen seines großen Romans „Doktor Faustus“ über den fiktiven Komponisten Adrian Leverkühn. Vor allem half Adorno Mann beim Verfassen der musiktheoretischen Teile des Werkes. Das hat auch Auswirkungen auf die „Dialektik“. Adornos intensive Beschäftigung mit der neuen Musik Arnold Schönbergs etwa, spielt eine große Rolle für den Aufbau der „Dialektik“. Hier liefert Mittelmeier mit seinem Buch eine echte Verstehenshilfe.
Das Wichtigste aber ist, dass „Freiheit und Finsternis“ immer wieder die Aktualität von Adornos und Horkheimers Text herausarbeitet. Das betrifft z. B. die Analysen des Rechtsradikalismus. Hier werden erstaunlich präzise die Mittel und Methoden der Neuen Rechten a la AFD beschrieben. Faschismus wird von den Autoren verstanden als Loslassen und Erlösung von den Mühen der Individualität. Aus dem Ich wird ein Wir, das sich gegen vermeintliche Eliten zusammenrottet und seine Opfer wahllos bestimmt. In der „Dialektik“ heißt es, „Neger, mexikanische Ringervereine, Juden, Protestanten“ könne man beliebig untereinander austauschen. Das alles klingt zum Verzweifeln. Am Ende aber steht die Hoffnung, deren Chiffre die tiefe Heillosigkeit ist. Auch das ist die „Dialektik“: die Überzeugung, dass Auschwitz nicht das letzte Wort ist.
Michael Mittelmeiers „Freiheit und Finsternis“ liefert auf dem Weg hin zu dieser Erkenntnis ebenso spannende wie erhellende Einblicke in die Szene der deutschen Intellektuellen im Exil in den USA. Auf diesem Weg öffnet es neue Wege hin zur Lektüre der schwierigen „Dialektik der Aufklärung“. Vor allem aber macht es Lust, diesen großen Text zu lesen.
Udo