Wofür steht Europa eigentlich? Was ist sein Wesen? Was sein Markenkern? Was wird da in der Ukraine im Krieg gegen Putins Russland verteidigt? Unsere Freiheit? Aber wie genau seht die aus? Was meinen wir damit? Die Tatsache, dass gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt sind? Unsere Schengener Freizügigkeit? Die Freiheit, wirklich wählen zu dürfen? Also Demokratie? Die Antwort auf die Frage, was wir unter Demokratie verstehen, fällt bei Viktor Orbán anders aus als bei Olaf Scholz.
Europa ist „ein seltsames politisches Gebilde“ (S. 9), schreibt Peter Sloterdijk in seinem neuen Buch. Man kann es angeblich nicht einmal anrufen, so ein Bonmot, das Henry Kissinger zugeschrieben wird, der sich allerdings nicht erinnern konnte, das jemals gesagt zu haben. Nicht mal das. Europa scheint so etwas zu sein, wie der Eckensteher auf unserem kugelförmigen Planeten.
Wie also beschreibt man dieses seltsame politische Gebilde Europa? Der Titel von Peter Sloterdijks neuem Buch „Der Kontinent ohne Eigenschaften“ gibt einen ersten Hinweis, welchen Weg Sloterdijk gewählt hat: die Literatur. Bücher. Natürlich kann man gar nicht anders, als an Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ zu denken, der ab 1930 erschienen ist.
Sloterdijk nähert sich Europa, indem er es als Buch versteht: „Wir definieren Europa hier als ein Buch, das von denen, die es angeht, zu wenig gelesen wird, und in dem seine Hasser nur blättern, um ihre Anklagen zu dokumentieren.“ (S. 29)
Konkret sieht das so aus, dass Sloterdijk verschiedene Themenzusammenhänge herstellt, die für ihn Europa charakterisieren. Er spricht dabei von Lektionen. Wir befinden uns also in einem Lehrbuch. Entsprechend beginnt Sloterdijks Suche nach den Eigenschaften Europas nach zwei Eröffnungsreden mit einer ersten Lektion über Europa als Lernzusammenhang. Unser Kontinent also als Raum, in dem Wissen erworben und weiterverarbeitet wird. Wenn ich Europa als Schulbuch der Welt begreife, dann stoße ich darin natürlich wieder auf Bücher. Jedes Buch handelt ja direkt oder indirekt von anderen Büchern. Wir finden dort Schriften von der Bibel über Hegel bis zu Karl Marx.
Diese Bücher befruchten sich alle gegenseitig. Man nennt das nach dem amerikanischen Soziologen Robert K. Merton den „Matthäus-Effekt“. Im Matthäus-Evangelium heißt es, „wer hat, dem wird gegeben“ (Mt 25,28). So ziehen jedes Buch und jedes Zitat weitere Bücher und Zitate nach sich und verstärken diese dadurch.
Ist das Europa, wie wir es erfahren? Europa als aufeinander bezogene Stimmen und als Stimmengewirr? Wenn man sich die täglichen Nachrichten anschaut, kann es so scheinen, so vielstimmig ist Europa. Es wundert jedenfalls nicht, dass Sloterdijk als homo academicus (Achtung, das ist auch wieder ein Buch, diesmal von Pierre Bourdieu!) darauf kommt, denn in der Wissenschaft, der Geisteswissenschaft zumal, ist die Zahl der Zitate aus einem Text ein Indikator für dessen Erfolg. Wer viel zitiert wird, muss irgendwie wichtig sein, auch wenn der betreffende Text nur von 20 Expertinnen und Experten gelesen wird.
Das nächste Buch, das Sloterdijk aufschlägt, ist das Buch der Revolutionen. Tatsächlich gab es in Europa ja eine ganze Reihe von politischen Umwälzungen: 1789, 1848, zuletzt 1989. Der deutsche Historiker Eugen Rosenstock-Huessy hat 1938 in seinem Buch Out of Revolution. Autobiography of Western Man versucht, eine Autobiographie des westlichen Menschen anhand der Revolutionen ín Europa zu schreiben. Sloterdijk zitiert ausgiebig aus diesem fast vergessenen Text.
Weiter geht es um europäische Endspiele. Wer über Europa als Buch spricht, kann über Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes nicht schweigen, das 1918 erschienen ist. Spengler interpretiert Geschichte, indem er Kulturen mit einem ähnlichen Lebenszyklus ausstattet wie Lebewesen (Kindheit, Jugend, Reife, Alter, Tod). Seitdem sehen Vordenker des rechten politischen Spektrums das Abendland immer wieder untergehen. Selbsternannte „patriotische Europäer“ demonstrieren gegen die Islamisierung des Abendlandes, um den Abend vor dem Morgen zu retten.
Sloterdijk schreibt über die europäische Ausdehnung nach Übersee und die Kolonialisierung vom „Rest der Welt“. Er liest und zitiert, dass es eine Leselust ist. Die Spannbreite reicht von Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde bis zu Oswald de Andrades Anthropophagischem Manifest. Besonders wichtige Stellen in den Texten markiert er mit Lesezeichen.
All das ist klug, Sloterdijk ist belesen, wie kaum noch einer. Seine Formulierungskunst ist bestechend. Die Bezüger, die er herstellt, sind frappierend. Und doch bleibt sein Europa merkwürdig blass! Aber vielleicht ist genau das von Sloterdijk beabsichtig: Keine trennscharfe Beschreibung Europas, das ja schon als Kontinent geographisch irgendwie unpräzise ist, sondern im Sinne von Musils „Mann ohne Eigenschaften“: Europa als der Ulrich (so der Hauptakteur bei Musil) unter den Kontinenten.
Europa, ein Kontinent des Möglichen, der sich zu nichts ernsthaft bekennt, der sich, wie Ulrich in Musils Roman, jeder Festlegung entzieht, um sich so alle Möglichkeiten, Optionen und Konstellationen offenzuhalten. Eben ein Kontinent ohne Eigenschaften. Ob das klug ist in Zeiten, in denen Politiker wie Putin, Trump und viele andere sehr klare Vorstellungen davon haben, wie die Welt für sie aussehen sollte, ist eine Frage, auf die wir unbedingt eine eindeutige Antwort haben müssen.
Sloterdijk versucht erst gar nicht, seinen Lesern zu erklären, was Europa denn jetzt sei oder seiner Meinung nach sein solle. Aber er weist uns sehr dringend darauf hin, dass wir uns in Europa darüber einig werden müssen, wofür wir eigentlich stehen wollen, wenn es uns nicht so gehen soll wie Robert Musil und dessen Protagonisten Ulrich. Auf der Suche nach einem anderen, höheren Zustand für Ulrich als Ausweg aus seiner Eigenschaftslosigkeit hat sich Musil nämlich so sehr verzettelt, dass der Roman viel zu langsam vorankam und die Nazis das Erscheinen der letzten Kapitel verhindert haben. Das sollte uns mit dem Buch Europa nicht passieren.
Udo