Peter Sloterdijk veröffentlicht neue Bücher in einer erstaunlichen Geschwindigkeit. Erst im Herbst 2020 erschien „Den Himmel zum Sprechen bringen“, das TheoPhil hier vorstellt. Jetzt ist „Der Staat streift seins Samthandschuhe ab“ erschienen. Es handelt sich um eine Reihe von Gesprächen, Interviews und Beiträgen aus dem Zeitraum 2020 bis 2021. Der älteste Beitrag ist vom 18. März 2020, der jüngste vom 8. März 2021. Alle Gespräche haben also während der Corona-Pandemie stattgefunden. Und entsprechend ist Corona das zentrale Thema des Buches, wenn auch nicht das einzige, es geht auch um die AFD, Terrorismus, den Klimawandel, Greta Thunberg, um die Berichterstattung über Corona und Sloterdijks Leben während der diversen Lockdowns.
Das Spannende an diesen Gesprächen ist es, dass man hier einen Denker von Rang beobachten kann, wie er mit den Mitteln der Philosophie auf das Weltgeschehen reagiert. Irrungen und Wirrungen eingeschlossen. „Wir leben in einer akuten Lernsituation“, sagt Sloterdijk einmal (S. 65). Im ersten Gespräch am 18. März 2020 spricht er noch davon, man sei „aufgefordert, sich bedroht zu fühlen“ (S. 10). Schon im April heißt es dann, dass die „Anfangsübertreibungen durch die Geschehnisse eingeholt werden“ (s. 25). Sloterdijk ging es also nicht anders als den Meisten von uns. Am Anfang hat man noch gedacht, das alles würde nicht so schlimm werden. Doch dann starben immer mehr Menschen. „Wir zählen Leichen, für Übertreibungen ist kein Platz mehr.“ (s. 25)
Zwei Gedanken durchziehen fast alle Gespräche. Zunächst einmal der titelgebende Gedanke vom Staat, der seine Samthandschuhe abstreift. Sloterdijk hat in diversen Schriften ein politisches Bild des deutschen Sozialstaates als Versorgungsanstalt der Bürger gezeichnet. Er nennt diesen Wohlfahrtsstaat auch „Allomutterstaat“, ein Staat der seinen Bürgern nicht befiehlt, sondern sie umsorgt und verwöhnt. Genau damit ist es im Ausnahmezustand vorbei. „Dann lässt er die eiserne Faust unter dem Samthandschuh sehen.“ (S. 63) Der Staat zeigt sich jetzt als reine Exekutivgewalt und regiert durch. Versammlungsverbote, Ausgangssperren, Demonstrationsverbote, Schließungen – das gesamte Portfolio der Grundrechtseinschränkungen, das wir seit Beginn der Pandemie erleben. Um Missverständnissen vorzubeugen: Sloterdijk ist kein Querdenker. Er befürwortet die Einschränkungen, weil es darum geht Grundrechte zu gewichten. Das Grundrecht auf Leben und Unversehrtheit wiegt fraglos höher als ein Spaziergang um Mitternacht oder eine Party.
Der zweite Grundgedanke, wenn man das so über einen Interview-Band sagen kann, ist der des Ko-Immunismus, den Sloterdijk gleich mehrfach ins Gespräch bringt. Gedanke und Begriff stammen aus Sloterdijks Buch „Du mußt dein Leben ändern“ von 2009. Ko-Immunismus besagt, dass niemand für sich allein immun sein kann. Mit Corona werden wir nicht fertig, wenn es nur einzelne gibt, denen das Virus nichts anhaben kann. Wir müssen alle immun werden. Das ist eine gemeinsame Anstrengung – und genau die müssen wir jetzt erbringen, in Deutschland und auf der ganzen Welt. Das besagt, dass sich so viele Menschen wie möglich so schnell wie möglich impfen lassen sollten. Und solange das noch nicht geschehen ist, heißt es Abstand halten, Teststäbchen in die Nase, Maske auf. Dieser Ko-Immunismus ist eine ganz neue Form des Zusammenhalts. Es ist eine Art des Aufeinander Achtgebens. In einer solchen gemeinsamen Anstrengung liegt eine große Hoffnung. Denn wenn sie zum Beispiel auch beim Klimawandel unternommen würde, ließe sich der tatsächlich noch verhindern. Und die Politik hat mit ihren Corona-Maßnahmen die letzte Ausrede aus der Hand gegeben, „dass sie meistens nicht kann, wie sie will. Wir haben gesehen, was sie kann, wenn sie will“ (s. 168).
Bei Hegel gibt es den Satz, Philosophie sei „ihre Zeit in Gedanken gefasst“. Genau das erleben wir in diesem höchst lesenswerten Buch.