Der dritte Band von Peter Sloterdijks Notizen ist sieben Jahre nach der letzten Notiz von 2016 erschienen:
"18. Dezember, Karlsruhe
»Wäre der Nationalstaat ein Mensch, müßte man nach dem Notarztrufen.« (Gabor Steingart)
Kein Tag ohne Zeile. Es gilt, die mittlere Höhe zu halten.
W.H. Auden stellt richtig fest: »Meisterwerke sollten den hohen Festtagen des Geistes vorbehalten bleiben.« (Des Färbers Hand, S.53)"
Das ist lange her und da macht es nichts, dass meine Rezension auch etwas spät kommt. Immerhin, was ist nach 2016 alles passiert! Pandemie, Kriege, weltweite Verwerfungen, die den Vormarsch der Rechten begünstigen und den Faschismus weltweit wieder salonfähig machen.
Dabei waren auch die Jahre von 2013 bis 2016, die wir jetzt bei Sloterdijk noch einmal nach-denken und nach-lesen, alles andere als ruhig. 2014 überfällt und annektiert Wladimir Putin völkerrechtswidrig die zur Ukraine gehörende Krim. 2015 wird Paris gleich mehrfach zum Schauplatz islamistischer Terrorattacken, im Januar der Anschlag auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“, im November werden das Stade de France, mehrere Restaurants und Bars sowie das Bataclan-Theater angegriffen. Im Bataclan gibt es ein regelrechtes Massaker. Im Spätsommer 2015 beginnt die sogenannte Flüchtlingskrise, berühmt dazu ist der Satz „Wir schaffen das.“ der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Euro-Krise nach dem Bankencrash von 2008 zieht sich durch alle drei Jahre der neuen Notizen und ein Rettungspaket nach dem anderen wird für Griechenland geschnürt. Im November 2016 wird Donald Trump dann auch noch zum Präsidenten der USA gewählt.
Wahrhaftig keine guten Zeiten damals. Und wenn man die Zustände 2013 bis 2016 mit der Gegenwart vergleicht, dann hat sich eigentlich wenig geändert. Der Terror feiert ungeahnte Urstände, die Wirtschaft kriselt und am Horizont winkt Trump schon wieder.
Kurz gesagt: Es lohnt, Sloterdijks Notizen allein schon deshalb zu lesen, um sie mit der Gegenwart zu vergleichen. Immerhin hat Sloterdijk schon 2013 in Neue Zeilen und Tage: Notizen 2011-2013 bei der AFD-Gründung im Februar 2013 die Entwicklung dieser Partei präzise vorausgesagt: „Die im Februar gegründete europakritische Alternative für Deutschland könnte ein Sammelbecken für alle Arten von Dumpfheiten und Ängsten werden. Vielleicht hat sie das Zeug zu einem deutschen Front National. Aber ob in Frankreich oder hier: Sich von solchen Tendenzen etwas zu erhoffen, das wäre, als wenn die Römer die Goten bäten, das Reich zu retten.“ (Neue Zeilen und Tage, S.467)
Beim Lesen wundert man sich, wann Sloterdijk eigentlich Zeit für seine teilweise sehr langen Notizen findet, denn gefühlt ist der Mann immer unterwegs. Frankreich, Niederlande, Österreich, USA und natürlich quer durch Deutschland. Berlin vor allem. Sloterdijk schreibt über die Frage, ob ein überfüllter ICE wirklich zur besten aller möglichen Welten (Leibniz) gehört, über Flughäfen und schlechte Hotels. Zuhause, damals noch Karlsruhe, scheint er eher selten zu sein.
Am 30. Juni 2015 feiert Sloterdijk seinen persönlichen „Independence Day.“ (S. 328) Seine Amtszeit als Rektor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe endet, da er die gesetzliche Altersgrenze von 68 Jahren erreicht hat. „Ich protokolliere den Übergang in den Zustand danach, wie ich andere künstliche Passagen beobachte, etwa die letzten Minuten von Silvesternächten.“ (S. 328)
Dieser Abschied ist einer von vielen, die Sloterdijk zwischen 2013 und 2016 festhält. Viele Menschen, mit denen er auf die ein oder andere Weise verbunden war, sterben: Hans-Ulrich Wehler, Ernst Nolte, Helmut Schmidt, Nelson Mandela und Hans-Dietrich Genscher, Ralph Giordano, Odo Marquard, Luc Bondy, Zaha Hadid, Peter Gay oder Michel Tournier und Leonard Cohen.
Diese Abschiede prägen die Stimmung der Notizen. Gleich auf den ersten Seiten steht eine Notiz zu einer Freundin, die im Sterben liegt. „Ich frage mich, ob Sterbende mit denen, die vorerst dableiben, noch gemeinsame Maßstäbe haben. Vielleicht bemitleiden sie diese Lebenshampelmänner, die eine Weile weiterzappeln werden. Vielleicht schauen sie etwas spöttisch auf die Verbleibenden, weil deutlich ist, wie sehr die sich täuschen, wenn sie sich auf der sicheren Seite fühlen.“ (S. 29)
Einige Seiten später kommt dann eine seht lange Notiz zur Ewigkeit vor der Geburt. Diese Gedanken zur eigenen Noch-nicht-Geborenheit gehören zu den schönsten und eindringlichsten Passagen der neuen Zeilen und Tage und lohnen allein schon den Kauf des Buches. Man muss Sloterdijks Notizen nicht am Stück lesen, man kann sie immer wieder einmal zur Hand nehmen, weil sie einem die Zuversicht schenken, dass Denken immer noch geholfen hat.
Peter Sloterdijk: Zeilen und Tage III, Notizen 2013-2016, Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
Udo