In seinem neuen Buch macht sich Richard David Precht Gedanken zur Außenpolitik. Tatsächlich ist die Frage, wie wir mit anderen Staaten umgehen wollen, spätestens seit Putins Überfall auf die Ukraine und dem Krieg in Israel ausgesprochen kompliziert geworden. Die Welt scheint sich 35 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges neu zu ordnen. Großmächte wie China, die USA und Russland versuchen, mit mehr oder weniger Gewalt ihre Einflussgebiete auszudehnen. Welche Rollen will Deutschland dabei spielen, welche Rolle hat die EU?
Lange Zeit hat Deutschland Außenpolitik nach dem Motto „Wandel durch Handel“ betrieben. Dahinter stand die Überzeugung, dass Wohlstand langfristig zu Demokratie und Frieden führt. Staaten, die miteinander wirtschaftlich eng verbunden sind, haben kein Interesse daran einander anzugreifen. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wissen wir, dass dieses Konzept gescheitert ist. Einer Bertelsmann-Studie vom März 2024 zufolge nimmt die Zahl der Demokratien weltweit ab, die Autokratien dagegen werden mehr. Trotz globalen Handels. Doch wie kann in einer solchen Situation eine neue Außenpolitik aussehen?
Precht tritt in seinem neuen Buch ein für eine wertegeleitete Außenpolitik und Toleranz. Was heißt das?
Fangen wir mit der wertegeleiteten Außenpolitik an. Precht zählt hier kapitellang die riesige Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der deutschen Außenpolitik auf. Er moniert: Deutschland pocht bei kleinen Staaten auf die Einhaltung der Menschenrechte, bei wirtschaftlich bedeutenden Staaten wie China dagegen, drückt man beide Augen zu und unterschreibt Verträge. Ganz ähnlich ist es beim Klimaschutz. Wir liefern Waffen in Kriegsgebiete. Wir lassen Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Opfer von Naturkatastrophen interessieren uns im Ahrtal aber nicht in Afrika. Und wenn es sein muss, ist die Würde des Menschen auch antastbar. Wir reden über Selbstbestimmung, sagen aber allen anderen, was sie zu tun und zu lassen haben. Putin wird vorm Internationalen Gerichtshof in Den Haag als Kriegsverbrecher angeklagt und seitdem mit internationalem Haftbefehl gesucht. Unser wichtigster Verbündeter, die USA, erkennt diesen Gerichtshof für sich selbst aber nicht an. Das stimmt alles, wir bemängeln die Splitter in den Augen der anderen, sehen aber den Balken im eigenen Auge nicht. Precht breitet diese Widersprüche fast genüsslich vor dem Leser aus. Es fühlt sich beim Lesen an, wie im Lanz + Precht Podcast. Will sagen, es nervt, ist aber auch nicht falsch.
Und das mit den Werten ist ja auch so eine Sache. Andere Menschen haben andere Werte. Nicht mal bei den Menschenrechten ist man sich einig. Welche Rechte so ein Mensch qua Menschsein in Afrika oder Asien hat, ist halt anders als in Europa. Auf welche Werte soll man also setzen? Precht plädiert dafür, hier eine Art Wertehierarchie einzusetzen. Ganz oben der Klimaschutz und dann der Frieden. Das ist so weit vernünftig. Aber schon ein Blick auf die vielen Klimakonferenzen zeigt, dass es nicht wirklich funktioniert. Denn in einem armen Land zählt Wohlstand mehr als Klimaschutz. Und oft zählen Macht und Eitelkeit mehr als Frieden.
Auch Precht weiß das natürlich. Und deshalb plädiert er für mehr Toleranz. Es müssen eben nicht alle Staaten Demokratien sein, schreibt er. Viel wichtiger ist, dass wir die systemische Rivalität zwischen dem guten Westen und dem bösen China oder Russland aufgeben. Klingt gut, scheitert aber daran, dass wir vielleicht auf diese Rivalität verzichten mögen, aber tut das z. B. Putin auch? Darauf antwortet Precht nicht. Haben wir uns nach dem Überfall auf Krim und Donbass nicht viel zu tolerant gezeigt? Ein paar Sanktiönchen, die Russland nicht weiter gestört haben, um das Gesicht zu wahren. Dann 2015 das zahnlose Minsker Abkommen zur Beendigung des Kriegs in der Ostukraine. Aber im Grunde hat man Russland machen lassen. Ist das jetzt Toleranz? Welche Werte werden hier vertreten?
Das Ärgerliche an Prechts Buch ist, dass er selbst keine Lösung hat, aber das Fehlen von Lösungen mit viel Getöse bemängelt. Er bezieht sich dabei vor allen Dingen auf Studien und Zeitungsartikel, die er teilweise auch nur sehr selektiv zitiert. Wenn Precht behauptet, die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock, der er nicht mal einen Praktikumsplatz im AA zutrauen würde, sehe China als systemischen Rivalen, dann fehlen zwei Drittel des Zitats, denn die Ministerin nannte China einen „Partner, Wettbewerber und systemischen Rivalen“. Das klingt dann halt anders als der Dualismus von Feindbildern, den Precht in der EU und bei den Neocons in den USA unterstellt. Wobei er zusätzlich übersieht, dass auch Putin dualistisch denkt.
Mit Philosophie, für die Precht doch eigentlich stehen möchte, hat das nur am Rande zu tun. Deren Anfang wäre es, die Dramatik der gegenwärtigen Situation in der Ukraine und in Israel zu bedenken. Dramatik heißt hier: Es gibt keine einfachen Lösungen mehr. Es gibt auch keine richtigen Lösungen. Wie immer der Frieden in den beiden Ländern aussehen wird, wenn er denn kommt – es wird ein Friede sein, der vielen Menschen viel Leid abverlangt.
Richard David Precht: Das Jahrhundert der Toleranz. Plädoyer für eine wertegeleitete Außenpolitik.
Udo