Wenn wir gefragt werden, wer wir seien, dann antworten wir darauf meist, indem wir uns als Teil einer Gruppe vorstellen: Deutscher, Berliner, Philosoph, Sportler, Mitglied in diesem und jenem Verein. Identität hat etwas zu tun mit der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Das ist einfach, es gibt einem das Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit, Nestwärme und ermöglicht ein wunderbares Wir-Gefühl. Man gehört dazu – und andere nicht. We are the champions.
Diesem Gemeinschaftsgefühl steht die Tatsache gegenüber, dass jeder von uns eben auch ein Einzelner, eine Einzelne ist. Diese Einzelheit belastet viele von uns, weshalb wir sie in der Gemeinschaft aufheben wollen. Sie kann aber auch angenommen und als Herausforderung angenommen werden. Von dieser bewussten Form der Individualität handelt Rüdiger Safranskis neues Buch. Von Menschen, die sich nicht über die Identität einer Gruppe verstehen, sondern deren Existenz davon bestimmt ist, einzeln zu sein.
Safranski erzählt die Geschichten von 17 Einzelgänger*innen. Von Luther über Kierkegaard bis hin zu Thoreau, Ricarda Huch und Ernst Jünger. Das erste Kapitel untersucht einleitend den erwachenden Sinn für den Einzelnen in der Renaissance. Unterbrochen werden die Geschichten durch Zwischenbetrachtungen, in denen die einzelnen Lebensentwürfe miteinander verglichen werden. Eine Schlussbetrachtung geht dann unter anderem auf das Problem des Einzeln-seins in Zeiten der Sozialen Medien ein, die ja die paradoxe Situation geschaffen haben, dass hier jede und jeder eine Bühne für die eigene Show bekommt, egal wie groß der Schwachsinn ist, der aufgeführt wird. Auf der anderen belohnen Facebook und Co. gerade das Schwarmverhalten. Gut ist, was viele mögen.
Schon einleitend stellt Safranski klar, dass er die jeweiligen Protagonisten zwar historisch geordnet hat, aber er will weder eine Geschichte des Einzeln-seins schreiben noch eine Theorie über das Einzeln-sein. Wenn man dieses Einzeln-sein ernst nimmt, dann ist jede Existenz ein Sonderfall. Es kann also keine Verallgemeinerung geben.
Das ist alles richtig, es geht um höchst individuelle Lebensentwürfe, die Safranski kenntnisreich beschreibt. Und doch gelingt es ihm nicht, sich der Einzelheit seiner Akteure wirklich zu nähern. Das hat verschiedene Gründe. Zunächst einmal kann man bei einigen von ihnen schlicht bestreiten, dass sie tatsächlich Einzelgänger waren. Karl Jaspers etwa war zwar über Jahre hin politisch isoliert, aber er lebte Jahrzehnte mit seiner Frau Gertrud in einer fast symbiotischen Beziehung. Hannah Arendt war zur Freundschaft begabt wie nur wenige Menschen, von Einzelheit keine Spur.
Das eigentliche Problem aber besteht in der Frage, wie man sich der Einzelheit des Einzelnen nähert. Safranski macht das über Texte, die seine Solitäre geschrieben haben. Mit diesen Texten aber treten sie aus dem Einzeln-sein heraus und wenden sich an ein Du, an eine Person, die diesen Text lesen wird und damit das Einzeln-sein aufhebt. Die Einzelheit, von der erzählt werden soll, tritt nur in vermittelter Form auf. Es liegt in der Natur der Sache, dass Safranski keine Interviews machen konnte, er muss sich auf die hinterlassenen Werke beziehen und aus ihnen zitieren. Statt Diderot selbst also „Rameaus Neffe“. Ernst Jünger beschreibt Safranski als Waldgänger, dabei bezieht er sich auf den 1951 erschienenen Essay „Der Waldgang“. Aber ist Jünger selbst dieser angeblich so unabhängige Waldgänger, den er in seinem Text vorstellt? Kann man diese Identifikation so vornehmen? Jünger hat auch einen höchst einfluss- und folgenreichen Text über den Arbeiter geschrieben ohne einer zu sein. Eigentlich verbietet es sich, den Autor mit einer seiner Figuren zu identifizieren.
Es gibt in der Philosophie den Satz „Individuum est ineffabile“. Zu Deutsch etwa: Das Individuum ist nicht zu fassen. Es ist unaussprechlich. Genau da liegt das Problem von Safranskis philosophischer Herausforderung, so der Untertitel seines Buches. Wir schauen niemandem hinter die Stirn. Auch Rüdiger Safranski nicht.
Udo
Petra de zamagna (Freitag, 29 Juli 2022 10:40)
Interessante Aspekte wie man dem „Einzel-sein“ nicht hehr werden kann. Sozusagen im Ansatz gescheitert, Hr.Safranski.
B. Zucker (Sonntag, 19 Dezember 2021 14:01)
Eine sehr schöne Kritik!