„Unheilige Allianz“ des katholischen Theologen und Kirchenrechtlers Thomas Schüller ist ein Buch über das Verhältnis von Kirche und Staat. Sie leben, juristisch gesprochen, in einem Kooperationsmodell, das für beide Vorteile bringt, eine Win-win-Situation. Das war, als es vor 75 Jahren in der Verfassung festgeschrieben wurde, angemessen. Die Kirchen galten als die Sinn- und Moralinstanzen, auch für Politik und Staat, der ihnen verfassungsrechtlich großen Gestaltungsfreiraum zugestand. Die Sonderrechte der beiden großen christlichen Kirchen entsprachen ihrem gesellschaftlichen Standing, gehörten ihnen doch fast 90 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland an.
Heute ist das anders. Wir sind eine plurale Gesellschaft mit unterschiedlichen Religionen. Circa die Hälfte der Deutschen sind konfessionslos, weniger als 50 Prozent gehören den alten Volkskirchen an, die Austrittszahlen sind hoch. Das Vertrauen ist insbesondere durch den aufgedeckten Missbrauch und seine Vertuschung sowie das Finanzgebaren einzelner Bischöfe verloren
Trotzdem genießen die Kirchen nach wie vor Privilegien, die ihnen die staatliche Justiz gewährt, z. B. im Umgang mit Fällen von sexueller Gewalt. Etwa bis zur Jahrtausendwende schaute sie in gewissem Sinne weg, wenn schwere Straftaten des sexuellen Missbrauchs durch Geistliche gemeldet wurden, geständige Täter nicht in Untersuchungshaft kamen oder es Bewährungsstrafen gab und Täter zurückkehrten in pastorale Aufgaben. Durch die MHG-Studie der katholischen Kirche 2019 und die begonnene Missbrauchsaufarbeitung in den Diözesen und Bistümern bzw. eigene Missbrauchsstudien – die evangelische Kirche zog inzwischen nach - ist Bewegung in das kirchliche und weltliche Rechtssystem gekommen.
Thomas Schüller nimmt das Verhältnis von Kirche und Staat kritisch unter die Lupe. Es ist spannend, wie er das macht. Zunächst: Er führt einen durch einschlägige Rechtsfälle, die zeigen, wie intransparent dieses Verhältnis ist: eine unheilige Allianz mit blinden Flecken. Wie das? Die Kirchen scheinen das Wohlwollen der staatlichen Justiz im Umgang mit kirchlichen Tätern zu besitzen, und zwar vor allem dadurch, dass sie in ihren großen Sozialverbänden Caritas und Diakonie für den Staat gesellschaftsrelevante Aufgaben wie Bildung (z.B. Kindergärten, Schulen) und Pflege (z.B. Krankenhäuser, Pflege- und Altersheime) übernehmen. Diese blinden Flecken erklärt Schüller in einigen Bereichen, z.B. im kircheneigenen Arbeitsrecht, im Umgang mit Missbrauchsfällen, mit kirchlichem Geld, Steuern und Vermögen und der Besetzung von theologischen Lehrstühlen an staatlichen Universitäten. Das staatliche Wohlwollen gegenüber den Kirchen erkennt Schüller z.B. an Rechtsurteilen, an Strafen oder fehlenden Strafen oder auch an fehlender Aufsicht.
Sodann ist die Lektüre spannend, weil das Buch sehr kenntnisreich geschrieben ist. Der Autor leitet einen kompetent durch die Rechtsfälle, die thematische Minenfelder sind. Er kennt sich nicht nur als Hochschulprofessor und Direktor des Instituts für Kanonisches Recht der Universität Münster gut aus in Kirchenrecht, Religionsrecht und kirchlicher Rechtsgeschichte, sondern hat langjährige Berufserfahrung als leitender Kirchenrechtler und Lobbyist im Bistum Limburg. Zudem ist er bewandert in katholischer Publizistik, kommuniziert also sein Wissen engagiert und allgemein verständlich in die Öffentlichkeit.
Last not least schreibt Thomas Schüller kritisch als engagierter Katholik, der z.B. im katholischen Reformprozess Synodaler Weg vertreten ist. Spannend ist schließlich auch seine These. Sie ist ein Plädoyer mit Ausblick. Kirche und Staat müssen sich trennen. Ihre Trennung ist zwar schwierig und verfassungsrechtlich lange überfällig, sollte aber als „Transformationsprozess“ (S. 191) von allen Beteiligten in Gang gesetzt werden. Vielleicht erfüllt sich für die Kirche Thomas Schüllers unbedingt weiterzuspinnende Vision: „Als Theologe und Katholik wäre mir meine Kirche sympathischer, wenn sie auf wohlerworbene Rechte und Besitzstände dort, wo es um der Menschen willen verantwortbar erscheint, freiwillig verzichten würde, um an anderen Orten, die vielleicht nicht staatlich alimentiert werden, für die Menschen da zu sein, die unter die Räder gekommen sind: Obdachlose, Flüchtlinge, Kranke, Schwerbehinderte. Keine Frage: hier geschieht immer wieder Vorbildliches, nicht selten verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit, man denke nur ans Kirchenasyl.“ (186f)
Die Tatsache, dass im Februar 2024 der Vatikan dem Synodalen Weg die Einrichtung eines Synodalen Rats verboten hat, dass sich die Ermittlungen gegen den Kölner Kardinal Woelki wegen Meineides vor Gericht verzögern oder dass neue Fälle von Missbrauch im Bistum Mainz nach dem Jahrestag der Vorstellung der Missbrauchstudie bekannt wurden, zeigt, wie aktuell Thomas Schülers „Unheilige Allianz“ ist.
Sabine