Timothy Snyder: Über Freiheit

Timothy Snyders neues Buch „Über Freiheit“ ist eines der wichtigsten Bücher dieses Jahres. Denn es stellt ganz entscheidende Fragen: Wie wollen wir leben? Und was wollen wir dafür tun? Diese Fragen sind in den letzten Jahren immer drängender geworden. Es gibt viele Gründe dafür. Das beginnt mit dem völkerrechtswidrigen russischen Überfall auf die Ukraine, dem Krieg in Israel und dem zunehmenden Erfolg von rechten Parteien wie der AFD in Deutschland, der FPÖ in Österreich, dem Rassemblement National in Frankreich und schließlich Donald Trumps Republikanern in den USA. Auch der Klimawandel, dessen Folgen wir immer drastischer zu spüren bekommen, stellt uns vor diese Frage. Ebenso das Verschwinden der Mittelschicht und das zunehmende Auseinanderklaffen der Gesellschaften in Arm und Reich. Dann die immer größere Zahl von Migrant*innen.

 

Unsere Gesellschaft ist zunehmend gespalten. Hinter dieser Spaltung steht die Frage, wie wir umgehen wollen mit unserer Freiheit. Denn im Kern der Spaltung steckt ein Gefühl von „Wir gegen die anderen“. Immer mehr Fremde kommen zu uns und gefährden unser Leben. Einen solchen Satz würden wahrscheinlich Putin, Trump, Alice Weidel, Herbert Kickl, Marine Le Pen, Netanyahu, Hamas, Hisbollah und viele andere unterschreiben. Schon diese seltsame Allianz sollte einen misstrauisch machen. Was sie alle wünschen ist die Freiheit von etwas: Migranten (Trump, Kickl, Weidel, Le Pen), dem Westen (Putin), Israel (Hamas, Hisbollah, Iran) oder den Palästinensern (Netanyahu). Diese Form der Freiheit nennt sich negative Freiheit. Sie setzt darauf, dass alle Probleme gelöst sind, wenn wir erst „frei“ sind von allem, was uns scheinbar bedroht. Die Frage ist nur: Wenn wir all das los sind – was dann? Genau da wird es schwierig. Entsprechend haben die meisten Vertreter eines negativen Verständnisses von Freiheit dafür kaum Pläne oder Ideen. England nach dem Brexit ist ein gutes Beispiel dafür.

 

Was also fangen wir an mit unserer Freiheit? Das ist die zentrale Frage, die Timothy Snyder bewegt. Um sie beantworten zu können, ist es allerdings notwendig zu wissen, was wir eigentlich positiv unter Freiheit verstehen.

 

Snyder identifiziert fünf Momente oder Elemente einer positiven Freiheit. Da ist zunächst die Souveranität des Leibes. Sie beginnt mit der Abnabelung des Babys von der Mutter. Wichtig ist hier, dass Snyder nicht von Körper spricht, sondern vom Leib. Körper sind Objekte im Raum, zum Leib allerdings gehört untrennbar die Seele. Freiheit heißt, den Menschen als mit Leib, Seele und Würde begabt zu verstehen und auch so zu behandeln. In den vielen Kriegen, die jetzt geführt werden, sind Menschen nicht mehr als Körper, militärische Verschiebemasse. Flüchtlinge, die als „Strom“ beschrieben und als rein zahlenmäßiges Problem „bearbeitet“ werden, sind Körper. Sie alle als Leib zu verstehen, heißt, jedem und jeder Einzelnen ein Gesicht zu geben, eine Geschichte, eine Individualität zuzugestehen. Das verändert unseren Umgang mit diesen leibhaftigen Menschen.

 

Der nächste Punkt ist Unberechenbarkeit. Freiheit produziert so etwas wie einen Schmetterlingseffekt, der zu erstaunlichen Ergebnissen führen kann. Snyder erzählt die Geschichte der tschechischen Underground Band „The Plastic People of the Universe“. Deren Music war maßgeblich beeinflusst von „The Velvet Underground“ aus den USA, der Band um Lou Reed und aus dem Umkreis von Andy Warhols Factory. 1976 wurden die Plastic People in der Tschechoslowakei verboten, ihre Musik wurde der Gegenkultur zugerechnet. Man klagte die Musiker an wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und verurteilte sie zu langen Haftstrafen. Einer, der sich gegen die Inhaftierung der Musiker wandte, war der Dramatiker Vaclav Havel. Er schrieb einen Text, der schließlich zur Entstehung der Charta 77 führte. Diese Menschenrechtsbewegung stand dann im Mittelpunkt der Opposition gegen das kommunistische Regime. Was also in New York mit Songs wie „Waiting for the Man“ oder „Venus in Furs“ begann, führte in Europa zum Widerstand gegen die kommunistische Diktatur.

 

Der nächste Punkt ist Mobilität. Das meint zunächst einmal: Freiheit heißt, du kannst dahin gehen, wohin du willst. Das Gegenteil davon ist ein Gefängnis, das jede Mobilität verhindert. Mobilität ist allerdings auch sozial. Man kann sich vom Rand der Gesellschaft in deren Mitte vorarbeiten, sich auf der sozialen Stufenleiter nach oben bewegen. Snyder nennt hier z. B. den Zustand der Straßen als Symbol für Freiheit. Man erinnere sich nur an den Zustand der Straßen in der ehemaligen DDR. Mit der Wiedervereinigung wurden alle Straßen repariert. Ein anderes Beispiel sind die offenen Grenzen in der Europäischen Union. Sie zu schließen, um Migrant*innen abzuhalten, macht uns alle unfreier. Wollen wir das?

 

Snyders nächstes Element von Freiheit ist die Faktizität. Hier geht es schlicht darum, dass Freiheit und Wahrheit eng zusammenhängen. Die Lügen und Fake News von rechten Populisten machen uns nicht freier. Der Verlust einer funktionierenden Presselandschaft macht uns nicht freier. Snyder weist auf die große Bedeutung des Lokaljournalismus hin, der durch soziale Medien nicht ersetzt werden kann. Faktizität bedeutet, dass man sich auf die Qualität von Berichterstattung verlassen kann. Das ist bei seriösem Journalismus, wie ihn große Zeitungen oder Fernsehsender bieten, durchaus gegeben. Wer dagegen Lügenpresse skandiert, sich nur noch über die sozialen Medien, in denen jeder jeden Unsinn behaupten kann, informiert oder interessengesteuerte Medien a la „Compact“ oder „KenFM“ nutzt, der untergräbt die Freiheit, die er angeblich schützen will.

 

Schließlich geht es um Solidarität. Niemand ist alleine frei. Und Freiheit braucht es, dass wir gemeinsam für sie einstehen. Freiheit ist immer inklusiv, sie geht alle an. Wenn Freiheit eine Gruppe ausschließt, ist es keine Freiheit, sondern bewegt sich in Richtung Rassismus und Populismus.

 

Timothy Snyder ist Amerikaner. Das hat natürlich Auswirkungen auf sein Buch. Vieles, was er schreibt, ist auf die amerikanischen Verhältnisse gemünzt. Snyder warnt eindringlich von Donald Trump und dessen mächtigem Fan Elon Musk. Er plädiert für einen amerikanischen Sozialstaat nach europäischem Vorbild mit Kranken- und Sozialversicherungen. Damit stellt er sich auf die Seite von Politiker*innen wie Barack Obama, Joe Biden und Kamala Harris.

 

Unseren Kindern die Idee der Freiheit hinterlassen, darum geht es: „Unser Problem ist nicht die Welt, unser Problem sind wir. Und deshalb können wir es lösen. Wir können frei sein, wenn wir erkennen, was Freiheit ist. Wir können die Kreativität in der Vergangenheit sehen, die Möglichkeiten in der Gegenwart, die Freiheit in der Zukunft. Wir können uns gegenseitig anerkennen, eine gute Regierung bilden und unser eigenes Glück machen. »Wir leben in einer Welt«, sagt Simone Weil, »in der die Menschen Wunder nur von sich selbst erwarten können.« Wir können unsere Chance ergreifen. Es ist unsere letzte, aber es ist eine Gute.“

 

Von mir gibt es für dieses Buch eine absolute Leseempfehlung!

 

Timothy Snyder: Über Freiheit, Beck Verlag München 2024.

 

 

Udo

 

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