„Mit dir, ohne dich“ ist ein Buch über das Leben eines betagten Ehepaars mit Demenz. Sie ist die Kranke, Waltraud Schaffer, er ist der Verfasser des Buches, Ulrich Schaffer - ein kanadischer Autor mit deutschen Wurzeln und auf dem deutschen spirituell-religiösen Büchermarkt seit Jahrzehnten bekannt. Er pflegt sie, ist bei ihr in ihrer Demenz, schreibt darüber und verarbeitet dadurch, wie die Krankheit ihrer beider Leben bestimmt und unwiederbringlich verändert.
Das Buch ist eine Kompilation aus Texten von beiden aus alten Publikationen und aus Aufzeichnungen und Fotos während des Lebens mit Waltrauds Demenz. Es beginnt also nicht mit der Diagnose Lewy-Body-Demenz. Zielpunkt oder innere Mitte ist das Annehmen und der liebende Umgang mit Waltrauds Demenz. Um die Liebesbeziehung für den Leser verständlich zu machen, setzt Schaffer ausgewählte Texte, oft Liebeslyrik, aus Jahren ohne die Krankheit, vom Kennenlernen bis zur Diagnose, dem eigentlichen Erzählen über das Erleben der Krankheit voran. Wesentliches hält sich durch, besonders „ dass sie eine Frau war, die sich mit der Welt hinter der Welt beschäftigte… was dann über 20 Jahre später als große Herausforderung an sie herantrat.“ (10)
Waltraud verlässt, bildlich gesprochen, das vertraute Zimmer ihres gemeinsamen Lebens. Ulrich Schaffer versucht, die Schwelle zwischen ihrer beider Lebensräumen niedrig zu halten, als bewegten sie sich weiter in einem Zimmer und sie gehe nur in eine andere Ecke und nicht in einen anderen Raum. Sie soll für ihn möglichst lange erreichbar und die gemeinsame Lebenswelt mit Familie und Freunden soll für sie möglichst lange erreichbar bleiben. „Du lebst im Moment, sagt er zu ihr und sie denkt, dass sie lieber wieder in großen Zeitläufen denken würde und die Stunden im Vorbeifließen erkennen möchte. Manchmal beneidet er sie um ihre Fähigkeit, so intensiv im Moment zu leben. Und doch würde er nicht tauschen wollen. Mensch zu sein ist auch, eine Vergangenheit zu haben und sich auf eine Zukunft zu freuen. Und darin im Moment zu leben. Darin. Aber er geht mit ihr in den Moment, auch in den Levi-Body-Moment, in dem sie aus einer Welt kommt, die er nur ahnen kann. Manchmal wirkt sie, als würde sie lieber in dieser anderen Welt bleiben… Die Tochter kommt und sie erzählen ihr, was sie erleben und wie sie damit umgehen - und merken dabei, wie schwer es ist, ihrer beider Welt fassbar zu machen.“ (56)
Ihrem zunehmendem Hineingleiten in eine andere Welt begegnet Ulrich Schaffer mit unermüdlicher Einfühlung, Achtsamkeit, Liebe. „Beim Essen hat sie die Augen geschlossen ihre Hände sind kalt. Er füttert sie und wärmt ihr die Hände mit seinen. Es gibt Rührei mit Brokkoli und Blumenkohl. Er streicht ihr mit dem Zeigefinger über die geschlossenen Augen. Vielleicht weiß er es selbst in dem Moment nicht, dass es sein Versuch ist, sie zum Augenöffnen zu bewegen, um durch die Augen Kontakt zu ihr aufzunehmen. Es ist ihm wichtig an früher anzuknüpfen, an den kostbaren Austausch. Sie hält weiter die Augen geschlossen und scheint seinen Wunsch nicht wahrzunehmen.“ (261)
Interessant bei der Zusammenstellung der Texte ist der Wechsel der Perspektive, und zwar zwischen Prosatexten in Er- oder Sie-Perspektive und Gedichten in Ich-Perspektive. Darin spiegelt sich auch die Entwicklung der Krankheit und der Umgang damit – sehr persönlich die Gedichte und distanzierter die Prosatexte. Das tun auch die Fotos von Waltraud. Ulrich Schaffer hält den Verfall und die für ihn immer noch wahrnehmbare Schönheit seiner Frau in Bildern fest.
Vieles an den Texten ist anrührend, für meinen Geschmack sind da aber zu viel Worte, zu viel Mitteilung.
„Ich sitze an deinem Bett
und du bist nicht ganz sicher, wer ich bin.
Ich vertraue darauf, dass du mich unter den Menschen
in deinem Kopf erkennen wirst.
Und wenn es dir nicht gelingt,
dann weiß ich trotzdem, dass ich in dir bin,
so wie du in mir, in den weiten Landschaften,
die wir voneinander kennen.
Wir haben über 50 Jahre
Sanftmut und Härte, Reden und Schweigen,
Nähe und Abstand geübt,
weil alles daran hing.“ (110)
Schreiben als Selbsttherapie - wie viele Schriftsteller haben das nicht schon praktiziert und sind zum Therapeuten für sich selbst geworden. Ulrich Schaffers „Mit dir, ohne dich“ wirkt aber darüber hinaus für die Leser bibliotherapeutisch. Wer in Familie, Freundeskreis oder etwa in der Hospizarbeit mit Demenzkranken zu tun hat, wird in diesem Buch fündig werden, immer wieder Anker werfen können, eigenes Erleben im Umgang mit der Krankheit wiedererkennen oder sich auf den Umgang damit vorbereiten können.
Sabine
Eva-Maria (Sonntag, 02 Juli 2023 11:46)
Liebe Sabine, vielen Dank für diese Besprechung, hat mich sehr berührt.