Aby Warburgs Bilderatlas Memnosyne ist so etwas wie ein Mythos in der Geistesgeschichte. 1924 hatte Warburg mit der Arbeit an dem Bilderatlas begonnen. Der volle Name des Projekts lautete: „Mnemosyne, Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance“. Das erläutert in etwa worum es ging: Warburg wollte zeigen, wie sich Bildmotive aus der Antike über die Jahrhunderte hinweg fortsetzen bis in die europäische Renaissance hinein und in die Gegenwart. Ein Beispiel dafür ist die berühmte Laokoon Gruppe, die in den Kreis der Erzählungen um den trojanischen Krieg gehört, aber erst von Vergil in der Aeneis ausgeführt wird. Jedenfalls erkannte der trojanische Priester Laokoon als einziger den Betrug mit dem trojanischen Pferd. Er schleudert einen Speer gegen das Pferd, woraufhin Athene eine Schlange schickt, die Laokoon und seine beiden Söhne tötet. Die Laokoon Gruppe zeigt, wie die Schlange sich um Laokoon und seine Söhne windet. Dieses Motiv nun verwandelt sich im Laufe der Zeit und wird, sagen wir, jüdisch-christlich adaptiert ins Paradies: Laokoons Kampf mit der Schlange wird zum Sündenfall, die Schlange hält Adam und Eva umschlungen wie einst Laokoon.
Warburgs Ziel war es, solche bildgeschichtlichen Betrachtungen vorzuführen. Dafür heftete er Fotos von Bildern, Zeitungsausschnitte, Postkarten, sogar Briefmarken auf Holztafeln, die mit schwarzem Stoff überzogen waren. Es entstand eine Sammlung von motivgeschichtlich geordneten Fotos, die Warburg in Hamburg im Lesesaal der von ihm aufgebauten Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg (KBW) auf- und ausstellte. Im Laufe der Jahre wurde der Bilderatlas immer wieder neu geordnet, um die Bezüge deutlicher herauszuarbeiten. Warburg hielt Vorträge dazu, kurz: Die Sammlung wurde zu einer Art Geheimtipp. Ernst Cassirer zum Beispiel, der damals in Hamburg lebte, lehrte und eng mit Warburg zusammenarbeitete, verdankt dem Bilderatlas für sein Hauptwerk „Philosophie der symbolischen Formen“ sicher einiges.
1929 starb Aby Warburg. Damit stoppte die Arbeit am Bilderatlas. Dann kamen die Nazis und die KBW geriet als jüdische Institution – Warburg war Jude – zunehmend unter Druck. Noch im Frühjahr 1933 knüpften Mitarbeiter*innen der KBW Kontakte nach London und Ende 1933 wurden die gesamten Bestände an Büchern und Fotos nach London verschifft. Darunter auch die Bilder des Bilderatlas. Sie kamen in London ins Archiv, das im Laufe der Jahre erweitert und umsortiert wurde. Irgendwo zwischen zehntausenden von Fotos lagen auch die Bilder des Atlas. Aber wie es aussah, war der Atlas für immer verloren.
Das änderte sich, als der Kunsthistoriker Roberto Ohrt und der Künstler Axel Heil 2016 für ein Forschungsprojekt des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medien im Warburg Institute in London nach Abbildungen suchten, die Aby Warburg in den 1920er Jahren noch selbst in der Hand gehalten hatte. Sie wurden erstaunlich rasch fündig und begannen im Frühjahr 2019 mit der Suche nach den Originalbildern des Bilderatlas, wie er 1929 in der KBW ausgestellt und auf Fotos dokumentiert war. Aus einem Bestand von 400.000 Fotos schafften Ohrt und Heil es, die rund 900 Fotos des Bilderatlas in seiner letzten Form herauszusuchen. Einige wenige Bilder stöberten sie in anderen Bibliotheken auf, einige mussten reproduziert werden. Aber was jetzt, nach dem Haus der Kulturen der Welt, Berlin, in Bonn in der Bundeskunsthalle zu sehen ist, ist tatsächlich Aby Warburgs verloren geglaubter Bilderatlas Memnosyne.
Es ist ein wenig als stände man 1929 in der KWB in Hamburg. Die Ausstellung ist in Ellipsensegmenten angeordnet und spiegelt damit den ovalen Leseraum der KWB wider. Nur leider fehlt Aby Warburg, der einen durch die Bilderfülle führt! Mehr oder weniger (un-)vorbereitet, wie wir die Ausstellung besucht haben, erschlägt einen die schiere Fülle der Bilder. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Bilder schwarz-weiß, teilweise sehr klein, oft ist es schwer die Motive zu identifizieren, v. a. wenn sie aus dem arabischen Raum stammen. Kurz: Man steht, staunt, sieht und versteht nicht oder nur wenig. Hin und wieder lässt sich eine Tafel entschlüsseln, andere bleiben verschlossen. Man muss dazu wissen, dass der Bilderatlas 1929 ja nicht fertig war, es fehlten noch einige Tafeln, vor allem aber die erläuternden Texte.
So faszinierend Warburgs Projekt war und ist – man braucht Hilfe, um es zu verstehen. Es empfiehlt sich also, eine Führung zu besuchen. Oder aber man besorgt sich vor dem Besuch das sehr gelungene Begleitheft zur Ausstellung und liest es. Darin erfährt man nicht nur viel über die Geschichte des Bilderatlas und seiner Reproduktion, es werden auch die Tafeln erläutert, einzelne sogar sehr detailreich, sodass man versteht, wie Warburg gearbeitet und gedacht hat. So ausgerüstet begibt man sich auf eine gewinnbringende Reise zurück zu den Anfängen unserer Zeit, die immer stärker geprägt wird durch Bilder und die Frage, wer die Deutungshoheit über sie hat.
Sabine & Udo